Mit dieser Kolumne möchten wir gemeinsam mit unseren Freund*innen von Wildling Shoes den Themen Antidiskriminierung, Belonging und Intersektionalität am Arbeitsplatz mehr Raum und Sichtbarkeit geben. Durch Artikel, Interviews und verschiedene Perspektiven wollen wir uns und alle, die im Impact-Sektor arbeiten herausfordern und inspirieren. Und gleichzeitig ermutigen, authentisch gelebte Arbeitsbereiche zu schaffen, die Zugehörigkeit fördern und Diskriminierung reduzieren. Indem wir neue Perspektiven gewinnen und einen gemeinsamen Dialog führen können wir einen kollektiven Schritt in Richtung eines radikalen Systemwandels im Impact-Sektor gehen – von „Macht über“ und „Macht für“ zu „Macht mit“. Unsere Kolumnist*in für das Jahr 2022 ist Sohra Behmanesh.
Foto: Kris Wolf
Hallo, ich bin die Neue hier! Und ich würde gerne über etwas reden: Darüber, was Zugehörigkeit/Belonging gleichzeitig mit Diskriminierung und Berührbarkeit zu tun hat. Und darüber, wie wir miteinander dafür sorgen können, nicht immer so verdammt tapfer sein zu müssen.
Vor vielen Jahren – zu jener Zeit fing ich gerade an, mich mit Gewaltfreier Kommunikation zu beschäftigen – versuchte ich herauszufinden, was mich so stört an der Frage: „Woher kommst Du?“ Jemand fragte empathisch nach: „Geht es Dir um Zugehörigkeit?“ Nein, behauptete ich – und glaubte mir. Und ich brauchte eine ganze Weile, um festzustellen, dass ich mir in Wirklichkeit einfach nicht erlaubt hatte, dass es mir um Zugehörigkeit gehen dürfe.
In mir gab es nämlich eine Scham darüber, so bedürftig zu sein. Und meine innere Richterin war nicht einverstanden damit, dass der bedürftige Anteil in mir etwas haben wollte, das mir als Braune Frau in Deutschland immer wieder in Abrede gestellt wird: Zugehörigkeit. Sie hätte lieber gehabt, dass es mir um etwas Cooleres geht, etwas in Richtung Souveränität und Unabhängigkeit – darauf kommt es doch schließlich an, oder? Darauf, drüber zu stehen? Aber… was bedeutet das eigentlich, drüber zu stehen? Drüber zu stehen, dass meine Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der ich mein Leben verbringe, auf höchst dünnem Eis steht, erfordert, so tun zu müssen, als würde mich das nicht berühren, als wäre es mir egal. Drüber zu stehen verlangt von mir, zu leugnen, dass ich mich nach Zugehörigkeit sehne. Coolness – diese Form von Unberührbarkeit ist letztlich eine Schutzmaßnahme, eine Bewältigungsstrategie, wenn wir uns nicht in unserer Verletzlichkeit, in unserer natürlichen und höchst menschlichen Bedürftigkeit zeigen wollen, weil wir nicht darauf vertrauen können, sicher und geschützt zu sein, wenn wir uns nicht selbst schützen.
Aber nichts gegen Bewältigungsstrategien! Ich bin überzeugt: Bewältigungsstrategien sind unsere Freundinnen. Sie sind zwar die Art Freundin, die nicht immer die besten Ideen hat, und manchmal gehen ihre Ideen sogar tüchtig nach hinten los – aber ihre Intention ist aufrichtig liebevoll und fürsorglich, und sie ist genau dann am Start, wenn wirklich alle Stricke reißen. Bewältigungsstrategien meinen es gut mit uns. Und wenn ich lässig leugne, dass ich mich nach Zugehörigkeit sehne, dann muss ich nicht mitbekommen, dass es nicht wirklich jemanden interessiert was ich brauche. Wenn ich lässig mein Bedürfnis nach Zugehörigkeit leugne, dann ermöglicht mir das, den Schmerz darüber, dass ich nicht kriegen werde, was ich brauche, nicht in seiner vollen Wucht spüren zu müssen. Die Bewältigungsstrategie bringt meine Verletzlichkeit, diesen weichen, empfindsamen Teil von mir, in einem festen, harten Kokon in Sicherheit. Meine gute Freundin Bewältigungsstrategie ist in diesem Moment die Beschützerin meiner Würde.
Allerdings hat die ganze Angelegenheit auch ihren Preis. Im Kokon ist unsere Verletzlichkeit sozusagen fest angelegt, da kommen wir nicht so schnell wieder ran. Der Kokon macht uns weniger angreifbar, aber er macht uns auch weniger nahbar. Er härtet uns ab. Und Cherry Picking ist nicht. Wenn wir dafür sorgen, unseren Schmerz nicht zu spüren, spüren wir uns und die Welt auch sonst nicht mehr so richtig.
Und was mich interessiert: Ist das wirklich alternativlos? Es ist klar: Menschen mit unterschiedlichen Positionierungen in der Gesellschaft brauchen unterschiedliche Bedingungen, um sicher sein zu können. Meine Utopie ist, dass wir uns im Kleinen wie im Großen aufrichtig interessiert und konkret fragen: Wer braucht was, um so sicher zu sein, dass wir unsere Schutzschilde senken können? Wer braucht was, um mit der eigenen Verletzlichkeit, mit der eigenen Weichheit in Verbindung bleiben zu können? Wie können wir dazu beitragen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen? Mir ist es zum Beispiel nicht möglich, mich in einem Raum sicher zu fühlen, in dem ich die einzige nicht-Weiße Person bin, und in dem keine Sensibilisierung dafür stattgefunden hat, dass Rassismus real ist und auch in diesem Raum wirkt weil er in jedem Raum wirkt – um mich sicher zu fühlen, brauche ich, dass sich vorab Strategien überlegt werden, wie ich davor geschützt und wie entstandener Schaden für mich und an mir durch rassistische Vorfälle wieder repariert werden. Diversität alleine reicht nämlich nicht – und das ist auch relevant für unsere Arbeits-Spaces: Für wen sind diese ausgelegt, wer hat überhaupt eine Chance dabei zu sein? Und was brauchen Menschen mit Behinderung, mit chronischen oder psychischen Erkrankungen, trans Personen oder Eltern um über die bloße Teilhabe hinaus an ihrem Arbeitsplatz wirklich zugehörig zu sein und mitgedacht zu werden? Sind die Stühle im Büro geeignet für die dick_fette Person, die neu eingestellt wurde oder haben sie Armlehnen? Wird darauf geachtet, dass wichtige Meetings nicht am späten Nachmittag angesetzt werden, damit die*der alleinerziehende Kolleg*in in Teilzeit nichts verpasst? Wie viel Energie müssen marginalisierte Menschen aufbringen, Umstände aushalten zu müssen, in denen ihre Lebensrealität nicht mitgedacht wird – und geht das nicht auch anders?
Ich gebe ja ab und zu Seminare in empathischer Elternschaft, auf der Grundlage von Gewaltfreier Kommunikation, Achtsamkeit und Bindung. Und immer wieder stelle ich fest: Was unsere Kinder von uns Eltern brauchen, unterscheidet sich nicht sehr von dem, was wir Erwachsenen voneinander brauchen. Und tatsächlich gehört zu den zentralen Leitfragen meiner Elternschaft: „Was braucht mein Kind um mit seiner Weichheit in Verbindung bleiben zu können? Was kann ich tun, damit mein Kind nicht tapfer sein muss an Stellen, an denen es auch möglich ist, dass es sich sicher, geborgen und gehalten fühlen darf? Wie kann mein Kind in dem Vertrauen aufwachsen, dass es sich seine Zugehörigkeit nicht erst verdienen muss?“
Das Thema Zugehörigkeit arbeitet schon so lange in mir. Das englische Wort – belonging – tatsächlich noch mehr, weil ich z.B. bei einer meiner wichtigsten Lehrer*innen Tara Brach oft darüber stolpere, und weil in „belonging“ „to long for“ (sich sehnen nach) drin steckt, und weil ich es so mutig und gleichzeitig unerlässlich finde, sich zu dem eigenen Sehnen nach Zugehörigkeit zu bekennen, weil es die Bereitschaft für Verletzlichkeit und Berührbarkeit voraussetzt, und weil „belonging“ ja genau die Antwort auf und das Gestilltsein dieses Sehnens ist.
Das Gegenteil von Belonging ist Trennung und Einsamkeit. Und ich sehe, dass eigentlich überall ein epidemischer Mangel an dieser echten, geborgenen Zugehörigkeit herrscht; ein Mangel an diesem Selbstverständnis, dass wir Teil von etwas sind und nur als Ganzes so funktionieren, dass wir alle in Erfüllung und Sicherheit leben können. Belonging hat für mich mit einem tiefgreifenden Paradigmenwechsel zu tun, hin zu dem Selbstverständnis, dass wir alle verantwortlich füreinander und abhängig voneinander sind. Und damit, dass wir das Ausmaß der Dimensionen dieser Trennungen verstehen: unser Getrenntsein von unserer eigenen Berührbarkeit, von der Menschlichkeit unseres Gegenübers und die unserer Mitmenschen auf anderen Teilen der Erde, von Teilhabe und Verteilungsgerechtigkeit für alle Menschen, von der Natur, von den Tieren, die unsere Mitbewohner*innen auf diesem Planeten sind.
Die Frage von Zugehörigkeit ist eng verknüpft mit Fürsorge, mit Gemeinschaft – und auch mit der Zuweisung von Wert und Wichtigkeit. Wessen Leben ist wertvoll genug, selbstbestimmt leben zu dürfen und geschützt zu werden? Was ist mit den Weißen*, in Seenot geratenen Segler*innen, die mit einem Großaufgebot gerettet werden, und was ist mit institutionell koordinierten Pushbacks der Boote mit Braunen* und Schwarzen* Flüchtenden? Was ist mit den Tieren, die wir essen obwohl es gar nicht mit unseren Werten vereinbar ist, was mit diesen Tieren passiert? Was läuft falsch bei der Priorisierung der Klimakrise? Und auf der zwischenmenschlichen Ebene: Wie wirken sich welche Fehler auf unsere Zugehörigkeit, auf unseren Wert für unsere Gegenüber aus? Wie prägend sind die Gespinste persönlicher Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit für unser Selbstgefühl? Und Trennung überall. Belonging hingegen Mangelware. Lasst da mal öfter drüber reden.
Belonging also. Puh, das wühlt und sehnt und arbeitet in mir! Guten Tag, ich bin Sohra Behmanesh, die neue Kolumnistin hier. Und ich habe richtig Bock für Euch und an Euch zu schreiben!
www.instagram.com/sohra.beh
www.empathische-elternschaft.
*Anmerkung: Ich schreibe Weiß, Braun und Schwarz in diesen speziellen Kontexten groß, um deutlich zu machen, dass es sich nicht um tatsächliche Farbadjektive und Beschreibungen des Hauttons geht, sondern um Verortungen im rassifizierten Sozialgefüge.