Ich habe lange über mich gedacht, ich sei nicht so belastbar. Ich dachte das immer mit einem innerlichen, beschämten Seufzer, denn ich wusste ja: belastbar sein sollen ist unverhandelbar. Ich wusste auch: Das darf man nicht laut aussprechen, das kommt echt nicht gut an.
Und irgendwann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ich BIN (vor)belastet! Und dafür schlage ich mich ganz schön gut!
Ich war noch im Studium und auch noch gar nicht lange verheiratet und gerade erst Mutter geworden, da wurde ich recht unerwartet alleinerziehend. Das heißt, eine ganze Weile jonglierte ich auf mich gestellt Elternschaft, Studium und Job – und das alles mit einem Rucksack voll kaum bewusster und kaum aufgearbeiteter älterer und neuerer Baustellen. Heute weiß ich: Einige dieser Baustellen haben mit meiner traumatischen Flucht- und Migrationserfahrung als sehr kleines Kind, mit Rassismus und einer bis vor Kurzem noch undiagnostizierten ADHS zu tun. Das ist das Paket, mit dem ich ins Berufsleben startete. In den unbekümmerteren Jahren bevor es so weit war, machte ich in fast jeden Semesterferien Praktika, schrieb nebenbei für Musikmagazine, jobbte, war politisch aktiv, las jede Woche einen Roman, trainierte mir muskulöse Oberarme an, feierte 2-3 Mal wöchentlich die Nacht durch und sagte manchmal nur halb scherzhaft, ich wolle später Workaholic werden. Und dann haben sich einige Stellschrauben geändert und ich habe irgendwie nicht verstanden, warum ich nicht mal ansatzweise so viel schaffte wie früher.
Ich habe ja bereits in meiner vorletzten Kolumne beschrieben, dass die meisten von uns (und einige ganz besonders) nur eingeschränkt eine Chance haben, den Wert unserer Leistung gesund und objektiv einschätzen zu können. Und: Die meisten von uns haben außerdem kaum eine Chance, gesund und objektiv einschätzen zu können, mit welchen Belastungen und Ebenen des Gefordertseins sie quasi als persönliche Default-Einstellung bereits in den Tag starten. Und das hat viel mit Privilegien und Marginalisierung zu tun. Zum Beispiel:
- Rassifizierte Menschen brauchen ein bestimmtes Kontingent ihrer täglich zur Verfügung stehenden Energie automatisch dafür auf, um mit dem täglichen Racial Stress umzugehen. Der Racial Stress am Arbeitsplatz ist übrigens umso größer, je rassismus- und diversitätsunsensibler der Arbeitsplatz ist.
- Chronisch und/oder psychisch erkrankte oder behinderte Menschen brauchen ein bestimmtes Kontingent ihrer täglich zur Verfügung stehenden Energie automatisch dafür auf, um profane und allernötigsten Dinge des Alltags zu erledigen, die gesunde Menschen nebenbei machen.
- Neurodivergente Menschen (Neurodivergenz ist der Überbegriff für neurologische Normvarianten wie ADHS, Autismus, Dyskalkulie etc) brauchen ein bestimmtes Kontingent ihrer täglich zur Verfügung stehenden Energie automatisch dafür auf, um z.B. Reize wie Geräusche, Trubel oder soziale Interaktion zu verarbeiten.
- tffn.Eltern (vor allem Mütter und allen voran Alleinerziehende) brauchen ein bestimmtes Kontingent ihrer täglich zur Verfügung stehenden Energie automatisch für die körperliche, emotionale und mentale Care-Arbeit um ihre Kinder auf, und weder Feierabend noch Urlaub stehen ihnen wirklich zur Erholung zur Verfügung.
- Trans Personen brauchen ein bestimmtes Kontingent ihrer täglich zur Verfügung stehenden Energie automatisch dafür auf, um ein Geschlecht zu performen, das nicht ihres ist (wenn ungeoutet) oder mit Othering und Diskriminierung umzugehen (wenn geoutet).
Viele von uns verwenden die Energie, die übrig bleibt, komplett für ihren Job auf – auf der Strecke bleibt der ganze Rest: Hobbys, Selbstfürsorge, Nachtleben, Freund*innen, private Selbstverwirklichung. Weil das beim Job eben nicht geht, der Job fordert dass WIR flexibel, belastbar, verfügbar, störungsfrei, teamfähig funktionieren, umgekehrt können wir diesen Anspruch an unseren Job nicht stellen. Aber… warum eigentlich nicht? Es gibt viele Strategien, wie Arbeitgeber*innen diskriminierungssensibel die mentale Gesundheit ihrer Angestellten unterstützen können, sie müssen dies nur wichtig genug nehmen – die Informationen sind verfügbar.
Je weniger Anforderungen und Verantwortung das Leben an uns stellt, desto besser kann es uns gelingen, die Herausforderungen zu kompensieren. Lange bevor ich wusste, dass ich ADHSlerin bin, habe ich einfach mein Studienfach gewechselt als ich nicht damit zurechtkam. Wenn ich einen für mich schwer zugänglichen Text für ein Pflichtseminar lesen musste, konnte ich mir die Zeit nehmen, die ich brauchte, um ihn mir zu erschließen. Und wenn ich’s gelassen habe (weil ich mehr Bock hatte, mit Freund*innen im Park abzuhängen), hat’s eigentlich auch niemanden gejuckt. Das ist heute – gelinde gesagt – anders. Meine Kapazitäten zu kompensieren und so zu tun als ob sind schon lange aufgebraucht.
Immer wieder stelle ich fest: Selbst jene, denen politische Überzeugung viel damit zu tun hat, den Kapitalismus zu kritisieren, legen einen Arbeitsethos an den Tag, der viel mit Selbstausbeutung zu tun hat – aus loyaler Rücksicht auf die Kolleg*innen, aus Leidenschaft für den Job, aus Angst vor Versagen oder Kündigung, aus Ratlosigkeit zu Alternativen, aus verinnerlichten Glaubenssätzen, die unseren Selbstwert mit unserer Produktivität verknüpfen. Und für mich war es eine bahnbrechende Erkenntnis, festzustellen, dass ich gar nicht überfordert war, sondern überlastet. Es lag nicht an meiner Disziplin, an meinen Fähigkeiten, an meiner Willensstärke, an meiner Organisation – es lag an der Last, sie war einfach nicht zu schaffen.
Daran hat sich bisher wenig verändert, die Pandemie hat ihr Übriges dazugetan. Ich bin immer noch überlastet, mein Pensum ist nicht mal dann zu schaffen, wenn ich deutlich weniger schlafe/entspanne/Zeit mit Freund*innen oder anderen schönen Dingen verbringe/Zeit für meine Gesundheit aufwende als mir gut tun würde. Das liegt zwar daran, dass ich von vielen der Marginalisierungskategorien betroffen bin, die ich weiter oben beispielhaft aufgezählt habe. Aber… geht es uns eigentlich nicht vielen von uns so? „Eigentlich ist es zu viel. Der Preis dafür, es schaffen zu wollen, schaffen zu müssen, ist sehr hoch.“ Das Deutsche Ärzteblatt berichtete 2018, dass sich statistisch jede zweite Person in Deutschland von Burnout bedroht fühlt – das war VOR Corona!
Es gibt Menschen, die sich damit beschäftigen, wie wir das anders gestalten könnten. Es gibt z.B. die Initiative Gesundheit und Arbeit, es gibt kluge Artikel und kluge Magazine die sich damit beschäftigen wie es anders funktionieren kann. Das finde ich durchaus inspirierend, aber für mich ist gerade dran, viel früher anzusetzen, nämlich indem wir Angesicht zu Angesicht darüber reden: „Ich schaffe es auch nicht.“ Und nicht mit einem schulterzuckend-hilflosen Lachen das eigentlich bedeutet: „Na ja, Zähne zusammenbeißen und durch!“. Sondern ein: „Ich schaffe es auch nicht. Es kann nicht weitergehen wie bisher.“ Damit wir uns immerhin nicht noch zusätzlich mit unserer Scham belasten, mit unserem gemeinsamen Schweigen darüber.
Mit dieser Kolumne möchten wir gemeinsam mit unseren Freund*innen von Wildling Shoes den Themen Antidiskriminierung, Belonging und Intersektionalität am Arbeitsplatz mehr Raum und Sichtbarkeit geben. Durch Artikel, Interviews und verschiedene Perspektiven wollen wir uns und alle, die im Impact-Sektor arbeiten herausfordern und inspirieren. Und gleichzeitig ermutigen, authentisch gelebte Arbeitsbereiche zu schaffen, die Zugehörigkeit fördern und Diskriminierung reduzieren. Indem wir neue Perspektiven gewinnen und einen gemeinsamen Dialog führen können wir einen kollektiven Schritt in Richtung eines radikalen Systemwandels im Impact-Sektor gehen – von „Macht über“ und „Macht für“ zu „Macht mit“. Unsere Kolumnist*in für das Jahr 2022 ist Sohra Behmanesh.
Sohra Behmanesh lebt mit ihrer Familie in Berlin, arbeitet als freiberufliche Anti-Rassismus-Trainerin und findet Fürsorge und Empathie ebenso großartig wie Intersektionalität.
Hier könnt ihr mehr Artikel aus der Belonging Kolumne lesen: https://www.tbd.community/en/t/to-belonging
Foto: Kris Wolf