ursprünglich erschienen: 29.07.2015
„Die Masse der Menschen führt ein Leben in stummer Verzweiflung.“ – Henry David Thoreau (Walden)
Psychische Erkrankungen sind auf dem Vormarsch. Ob sie wirklich mehr werden, ist schwer zu sagen.
In jedem Fall ist die Zahl derer, die aufgrund psychischer Leiden krankgeschrieben werden oder gar in Frührente gehen, in den letzten Jahren stark gestiegen. Was ist der Grund dafür, dass sich immer mehr Menschen überfordert fühlen, innerlich ausbrennen und sich selbst nicht so akzeptieren und lieben können wie sie sind? Und wie ändern wir das?
Morgens, direkt nach dem Aufstehen, beschleicht Jörg (Name von der Redaktion geändert) dieses ungute Gefühl. Deshalb zögert er es auch stets so weit hinaus wie möglich, das Bett zu verlassen. Statt vom Schlaf erholt fühlt er sich bereits jetzt gerädert und es kommen die ersten Zweifel auf, ob er den heutigen Tag überstehen kann. Einen Tag wie jeder andere. Ein Tag, an dem voraussichtlich nichts Unvorhergesehenes passieren wird, und der ihn doch in leichte Panik versetzt. Der Magen zieht sich zusammen und der Brustkorb fühlt sich wie zugeschnürt an. Jörg ist jetzt Mitte 30 und leidet seit gut zehn Jahren an einer Angststörung mit wiederkehrenden depressiven Phasen. Man merkt es ihm nicht an. Er geht arbeiten, ist etwas zurückhaltend, aber wirkt sonst ganz normal, was auch immer normal sein mag.
So wie Jörg geht es Millionen Deutschen. Das Portal statista führt an, dass im vergangenen Jahr 26 Prozent der Menschen in Deutschland depressive Symptome gezeigt hätten und ein Viertel der Bevölkerung unter einer Angststörung leidet. Psychische Erkrankungen sind mittlerweile zum zweitwichtigsten Grund für eine Arbeitsunfähigkeit avanciert. Depression wird schon als Volkskrankheit bezeichnet so wie ein Hexenschuss oder Sodbrennen.
Nie ging es uns besser und nie fühlten wir uns so schlecht
Trotz Hartz 4 war der Lebensstandard in Deutschland und westlichen Gesellschaften im Allgemeinen nie so hoch wie er heute ist. Individualität wird groß geschrieben, persönliche Entfaltung ist wichtig. 1968 war der Befreiungsschlag für das Individuum, alle sind wir jetzt freie Menschen. Wenn nun jeder so sein kann wie er will und das tun kann was er möchte, dann sollte es doch grundsätzlich nur noch tendenziell glückliche Menschen geben. Aber das wäre ein Trugschluss.
Von der Freiheit sich selbst verwirklichen zu können ist es nur ein Schritt hin zum Zwang sich selbst optimieren zu müssen. Denn die Bedingung für unsere Freiheit ist es erfolgreich zu sein. Selbstmanagement ist dabei so ein Stichwort. An sich arbeiten, um optimal zu funktionieren. Wer nicht funktioniert, fällt aus dem Rahmen, passt nicht in die Gesellschaft und hat es schwer Teil von ihr zu sein. Menschen wie Jörg, die über Jahre hinweg zwanghaft versuchen zu funktionieren, sich selbst den Maßstäben der Gesellschaft, in der jeder seines Glückes eigener Schmied ist, anzupassen, werden irgendwann krank. Ihre eigene Identität oder besser gesagt ihr Lebensentwurf, ihre Bedürfnisse und Wünsche decken sich nicht mit den Erwartungen, die an sie gestellt werden. Identität ist eine vielschichtige, zutiefst widersprüchliche Konstruktion, die nur schwer in Einklang zu bringen ist. Wenn die eigenen Bedürfnisse nicht innerhalb der Gesellschaft, in der man lebt, befriedigt werden können, bleibt nur der Ausstieg. Oder die Aggression. Zunächst gegen das System, dann gegen sich selbst. Und die endet in der Unfähigkeit, sich selbst zu lieben, in der Depression.
Die nächste Generation der Ausgebrannten
Nun wird in Deutschland inzwischen etwas offener mit psychischen Erkrankungen umgegangen. Psychotherapien und die Herstellung von Psychopharmaka sind Boom-Geschäfte. Und gerade Psychopharmaka sind häufig Mittel, die nicht zwangsläufig eine Heilung herbeiführen, sondern das Funktionieren des Einzelnen gewährleisten sollen. Medikamentöse Behandlungen als solche sollen hier in keiner Weise in Frage gestellt werden, jedoch stimmen etwa die massiv gestiegenen Zahlen der von mit Medikamenten wie Ritalin behandelten Kinder durchaus nachdenklich. Haben tatsächlich alle diese Kinder ein Problem oder liegt das Problem bei der Gesellschaft?
Man muss befürchten, dass wir uns geradezu die nächste Generation von selbstzweifelnden, ausgebrannten Menschen heranzüchten. Nicht viel anders ist es mit der so genannten Generation Y. Die nach 1980 geborenen, die ausnahmslos über den gleichen medialen Kamm geschoren werden. Diese Generation, so heißt es, sei im Wohlstand aufgewachsen und mache sich wenig Sorgen um die Zukunft. Leistungsorientiert und äußerst flexibel seien die Ypsiloner. Ein Satz, den sie wohl häufig in ihrem behüteten Elternhaus gehört haben, ist: „Du kannst alles erreichen, was du möchtest.“ Willkommen in der Meriokratie! Was aber Sätze wie dieser auch implizieren, ist, dass wenn man scheitert, die Schuld zwangsläufig bei einem selbst liegt. Und so schreiben wir einer ganzen Generation munter Eigenschaften zu, die niemals auf den Einzelnen zutreffen können, sondern höchstens als tendenziell zu sehen sind. Diejenigen, die diesen Erwartungen nicht gerecht werden, sind dann die nächsten Kandidaten für Psychiatrie und Psychotherapie.
Vielleicht brauchen wir neue Utopien
Natürlich hört sich das sehr schwarzgemalt an. Und statt eine Dystopie heraufzubeschwören, ist es viel sinnvoller, an Auswegen zu arbeiten. Einige Menschen tun das bereits. Menschen, die ihrer Sehnsucht nach Freiheit, Sinn oder Gemeinschaft gefolgt sind und die Grenzen des Möglichen ausgelotet haben, gab es schon immer. Menschen wie der US-amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau, der Mitte des 19. Jahrhunderts eine selbsterbaute Blockhütte am Walden-See bezog und dort etwa zwei Jahre allein und selbständig lebte. Diese Zeit beschreibt er in seinem Werk „Walden. Oder das Leben in den Wäldern“.
Aber auch heute noch gibt es überall auf der Welt Menschen, die beschließen anders zu leben. Die Weltreporter stellen 17 solcher Beispiele in dem von Marc Engelhardt herausgegebenen Buch „Völlig utopisch“ vor. Die große Zeit der Utopien hatten wir in den sechziger und siebziger Jahren. Doch im von Ilija Trojanow verfassten Vorwort heißt es: „…heute, da Überwachungsstaat, oligarchische Strukturen, destruktive Finanzmärkte und vieles Kriminelle mehr Gegenentwürfe geradezu provozieren, braust der Wind wieder auf.“ Neben bekannten Projekten wie den dänischen Freistaat Christiania finden wir in dem Buch etwa die katalanische Hacker-Kommune Calafou oder eine selbstverwaltete Fabrik in Argentinien. Allesamt gelebte Utopien, die zeigen, dass man eben auch anders leben kann.
Neue Formen der Arbeit
Muss man aber zwangsläufig aus der Gesellschaft aussteigen, um selbstbestimmter leben zu können oder kann man den gesamtgesellschaftlichen Wandel auch durch Perspektivwechsel beim Einzelnen erreichen? Der Sozialphilosoph Frithjof Bergmann entwickelte dazu das Konzept der „New Work“. Dessen zentralen Werte sind Selbstständigkeit, Freiheit und Teilhabe an Gemeinschaft. In so genannten Zentren für Neue Arbeit sollen Menschen mithilfe von Mentoren herausbekommen, welche Arbeit sie wirklich tun wollen. Das herauszufinden ist keine einfache Aufgabe. Bergmann nennt das „Selbstunkenntnis“. Die Frage nach der Arbeit, die jemand wirklich tun möchte, soll eine Suchbewegung eröffnen, um schließlich das eigene Leben so zu verändern, dass man sich lebendig(er) fühlt.
Ein Unternehmen, das schon jetzt gänzlich anders arbeitet als herkömmliche Unternehmen, ist das Hamburger Kollektiv Premium Cola. Bei Premium sind alle Menschen gleichwertig, woraus sich ergibt, dass alle Entscheidungen mit allen im Konsens getroffen werden. So wird auch zum Beispiel über Löhne entschieden. „Stundenkontrollen gibt es aber nicht, jede/r rechnet ab, was er/sie meint“, erzählt Uwe Lübbermann, der Initiator von Premium Cola. „Ergänzungen zum Lohn gibt es nur für Kinder und bei Behinderungen. Das bedeutet, niemand kann zum Beispiel durch mehr Leistung finanziell aufsteigen.“ Das wurde natürlich bereits kritisiert, aber ein Kennzeichen von Sozialsystemen ist es, dass die Leistungsfähigeren die weniger Leistungsfähigen mitziehen. So ist gewährleistet, dass der einzige Anreiz, bei Premium zu arbeiten, inhaltlicher Natur ist. Premium-Mitarbeiter arbeiten dort, weil es das ist, was sie tun möchten – und das bei freier Wahl des Ortes oder der Zeit, in der gearbeitet wird. „Das ganze dreht sich eigentlich nur darum, mit Menschen auf Augenhöhe zu arbeiten. Wenn man das dauerhaft macht, wird man zwar nie Millionär, spart sich aber ganz viel negativen Stress. Ich musste in 13,5 Jahren nur zweimal jemanden rauswerfen“, so Uwe „ insgesamt habe ich so wenig negativen Stress, dass das meiner psychischen Gesundheit auf jeden Fall sehr gut tut. Ich würde es nicht mehr anders haben wollen.“
Wehrhaft im Büro
Überstunden, Unterbezahlung, Workaholic-Kollegen, moralisch fragwürdige Geschäfte, Status-Meetings, sinnlose Projekte. Ein täglicher Alptraum für viele. Zeit für Ideen – und Mut! Wir haben Rüstzeug mitgebracht.
Überstunden
Es ist 18 Uhr und du willst dich endlich mit einem Freund treffen. Aber der Grund, warum du pünktlich von der Arbeit aufbrechen willst, ist eigentlich auch egal, denn du warst heute morgen pünktlich im Büro und wirst für 40 Stunden bezahlt – und nicht mehr! Aber dein Vorgesetzter sagt „Hey, wir müssen das bis morgen fertig haben und die anderen bleiben schließlich auch!“ Dein Gewissen wird gegen dich benutzt.
Was tun? Der Vorgesetzte setzt dich mit diesem bedeutenden Projekt unter Druck, aber eigentlich weißt du, dass es Bullshit ist. Hätte dein Chef oder Chefin selbstbewusst eine realistische Deadline verhandelt, gäbe es nun keinen Stress. Aber jetzt „ist es nun einmal wie es ist“. Die Kollegen bleiben und du willst nun wirklich kein schlechter „Teamplayer“ sein.
Die Lösung? Nimm’ sie alle mit! Sprich mit deinen Kollegen, wenn ihr das nicht ohnehin schon bei jeder Mittagspause tut, über die leidigen Überstunden. Seid ihr alle der gleichen Meinung? Gut, dann sprecht euren Vorgesetzten darauf an. Die Deadlines müssen realistischer werden, Überstunden dürfen nicht zur Regel werden. Und ihr als Arbeitnehmer habt durchaus klare Rechte.
Deine Rechte
Laut § 3 des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) darf die tägliche Arbeitszeit beispielsweise 8 Stunden nicht überschreiten. Klar gibt es Ausnahmen und die Arbeitszeit darf auf 10 Stunden verlängert werden, aber nur wenn du innerhalb eines halben Jahres im Durchschnitt nicht auf eine Arbeitszeit von mehr als 48 Stunden pro Woche kommst. Sich seiner Rechte bewusst zu werden, ist der erste Schritt in Richtung Wehrhaftigkeit. – Dies ist keine gültige Rechtsbelehrung.
Schlechte Löhne
Du arbeitest hart und dein Unternehmen ist längst raus aus der Krise? Dein Chef aber sagt, der Gürtel müsse weiterhin eng geschnallt bleiben? Gewaltige Investitionen stünden bevor, das Wachstum müsse gesichert werden? Alles Unsinn. Deine Arbeitskraft gibt es nicht zum Spartarif! Stell‘ deinen Chef zur Rede und erinnere ihn noch einmal daran, wie viel deine bzw. die Leistungen deiner Kollegen Anteil am Umsatz haben und dass ihr nicht im Freiwilligendienst seid. Wenn es hart wird, gilt auch hier: gemeinsam ist man stärker. Vereinigt euch.
Hilfe von außen
Notfalls gibt es auch Hilfe von außen, z.B. Gewerkschaften (z.B. FAU oder lokale Vereine zur Beratung von Arbeitnehmern (z.B. in Berlin oder Bremen)
Mindestlohn
Seit dem Jahreswechsel gibt es nun endlich den Mindestlohn. Gleichzeitig gibt es aber noch immer einige „krumme Geschichten“:. Viele Menschen (v.a. im Niedriglohnsektor) arbeiten bedeutend länger als sie es „auf dem Papier“ tun. Und so werden aus 8,50 Euro Mindestlohn ganz schnell 5,- Euro pro Stunde. Und dann gibt es da noch die Branchen mit Übergangsregelungen, die sich bisher nicht an den Mindestlohn halten müssen. Da nützt auch keine Arbeitszeitenkontrolle.
Solltest du Fragen zum Mindestlohn haben oder Verstöße melden wollen, rufe einfach die Mindestlohn-Hotline des DGB an: 0391 / 4088003 (Festnetz-Tarif)
Sicher. All die Gesetze und Paragraphen bringen in einer Diskussion mit dem Chef wenig, wenn dir daraufhin gekündigt wird. Verdeutliche dir selber, dass deine Ausbildung eine ganze Menge Zeit, Geld und Nerven gekostet hat. Und mache dem Vorgesetzten klar, was du dem Unternehmen beisteuerst, dass du gut eingearbeitet bist und selbstständig arbeitest.
Workaholic Kollegen
Du arbeitest gut und selbstständig, aber jemand aus deinem Team arbeitet – am Ende auch noch unterbezahlt – bis zur Selbstaufgabe? Ihr geht pünktlich nach Hause und er lässt euch alle wie Drückeberger aussehen? Rede mit dieser Person, am besten im Team. Was denkt die sich? Dass sie alles alleine schaffen muss? Oder will sie am Ende doch nur den hohen Posten, die Anerkennung, das Geld? Sag ihr, dass Einzelkämpfer es ohnehin nie ganz nach oben schaffen, denn wer sollte dann all den Kleinkram erledigen, um den sie sich kümmert?
Moralisch fragwürdiges Geschäftsgebahren
Auf einmal war da dieses Meeting. Es sollte um Strategie oder sowas gehen. Und dann waren da die Ideen des Chefs. Wörter wie „ausnutzen“, „Schlupflöcher“ und „Aktionärsinteressen“ fielen.
Du dachtest dir „kann man das machen?“ aber Kollegen oder Chef wiegelten ab: ja, das muss so sein, sonst „tut es die Konkurrenz. Wir müssen wachsen oder werden gemeinsam untergehen.“
Was tun? Keine leichte Entscheidung, mag man meinen. Hier gibt es zwei Wege: entweder du kündigst dich selbst und suchst dir einen ordentlichen Job. Weg 2: Du wirst perfide mit dem Risiko, später doch noch rauszufliegen. Du sabotierst den Laden. Sand im Getriebe. Arbeitest langsam oder vergisst auch mal was komplett.
Ab und zu mal „nein“ zu sagen und moralische Zweifel anzusprechen, ist natürlich der eleganteste Weg. So können Kollegen und Chefs ihr Verhalten reflektieren und jeder merkt, dass sie eventuell gar nicht allein sind mit ihren vielleicht ebenfalls vorhandenen Zweifeln.
Status Meetings
Jede Woche, ja stellenweise sogar jeden Tag, das Gleiche: eine Autoritätsperson ruft zu einer Sitzung. Alle müssen erscheinen und langweilende Updates über sich ergehen lassen. „Wir liegen gut im Plan, aber jetzt müssen wir nochmal richtig Gas geben!“ Soso, wie jeden Tag also.
Du könntest dem Zuständigen sagen, dass du deine Zeit sinnvoller verbringen kannst, als dir die immer gleichen Floskeln und Grabenkämpfe, die überflüssige Planung und die dadurch ausbleibende Kreativität immer wieder antun zu müssen. Du könntest aber auch einfach nicht mehr erscheinen.
Sinnlose Projekte
Du gehst jeden Tag zur Arbeit, tust was du kannst aber insgeheim weißt du: Deine Arbeit ist schlicht sinnlos. Andere mögen umweltschädliche, ungesunde oder schlicht nutzlose Dinge produzieren und verkaufen. Aber bei dir ist es schlimmer: es wird nicht einmal etwas Schlechtes dabei rauskommen. Die Chefetage mag etwas beschlossen haben, was niemand anders als die Investoren beeindrucken soll oder sie haben sich schlicht nicht allzu viele Gedanken gemacht.
Und genau da kannst du ansetzen. Rechne den Chefs vor, was hier verplempert wird und leg’ noch einen drauf – erzähl ihnen, was du stattdessen tun könntest. Du willst ja nicht weg rationiert werden. Oder ist es dir etwa lieber, fünf Tage deiner Woche komplett zu verschwenden?
Text: Marius Hasenheit, Richard Gasch; Illustrationen: Tamara Bogatzki.
Dieser Artikel erschienen ursprünglich auf transform.