Wie finden wir aus der Ausgrenzungsfalle heraus?

Diskriminierungserfahrungen sind in Deutschland allgegenwärtig. Stana Schenck von #wirfürvielfalt überlegt sich: wie kommen wir aus dem System struktureller Benachteiligung raus?

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von Stana Schenck, June 9, 2021

Header: Gemma Chua-Tran via Unsplash

to belonging* ist unser nächster Schritt, um das Thema Anti-Diskriminierung neu zu denken und zu handeln. Weg vom Diskurs der Sichtbarkeit von Diversity und Inklusion hin zu einer authentischen und gelebten Zugehörigkeit aller marginalisierten Gruppen. Dies soll zu einem radikalen systemischen Wandel führen im Impact Sektor, von “Macht über” und “Macht für” hin zu “Macht mit”.  Diese Serie wird ermöglicht durch die Open Society Foundations.

35,6 % aller in Deutschland lebende Menschen berichten von Diskriminierungserfahrungen, berührend auf einem oder mehreren Diskriminierungsmerkmalen, die das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) definiert (Quelle: Antidiskriminierungsstelle des Bundes). Welche Voraussetzungen führen also dazu, dass Menschen durch andere Menschen oder durch Institutionen benachteiligt oder ausgegrenzt werden? Im Gesetz steht, dass Benachteiligungen wegen der ethnischen Herkunft, Religionszugehörigkeit und Weltanschauung, Behinderung, Alter, Geschlechts und sexueller Identität zu verhindern oder zu beseitigen sind. Soziale Herkunft wird als weiteres Diskriminierungsmerkmal diskutiert und seit diesem Jahr von der Charta der Vielfalt als weitere Quelle von Diskriminierung geführt.

Die Aufgabe ist komplex. Sie wird daher gerne in Teilaufgaben zerlegt und nur eine oder einige wenige der Diskriminierungsformen in den Mittelpunkt gestellt, losgelöst von den anderen Mosaiksteinen der Vielfalt. Oft wird der Eindruck erweckt, dass die jeweiligen Forderungen sich nicht als Bestandteil des Spannungsfeldes des Abbaus aller Diskriminierungsformen verstehen. Dennoch wird von Diversity gesprochen. Das ist deshalb problematisch, weil so der Anschein von Vollständigkeit erweckt wird. Dabei werden in der Debatte bestimmte Themen und damit bestimmte marginalisierte Gruppen schlicht nicht mitgedacht.

Die am häufigsten diskutierte Benachteiligung betrifft die (Un)Gleichstellung der Geschlechter. Vor kurzem stellte ich meiner 14-jährigen Tochter die Frage, wie hoch der Anteil der Frauen im Deutschen Bundestag sei. Sie stellte eine Parallele zu ihrer Klasse her, in der der Anteil der Mädchen und Jungs ungefähr gleich groß ist. Sie vermutete, dass die Geschlechterverteilung im Bundestag, der das ganze Land repräsentiert, ähnlich sein müsste. Leider kommen ungefähr auf sieben männliche Abgeordnete nur drei weibliche Volksvertreterinnen. Und die Ungleichverteilung zieht sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen fort.

Deutsche Unternehmensvorstände, beispielsweise, heißen mit dem Vornamen häufiger Thomas oder Klaus als es insgesamt Vorständinnen gibt. Nun wurde die Frauenquote für die Vorstände der börsennotierten Unternehmen beschlossenen. Wird das zu besseren Entscheidungen der Vorstände führen? „Das ist nicht ausgemacht“, schreibt Margarete Stokowski in ihrer aktuellen Kolumne und fügt hinzu, dass damit nichts Grundsätzliches, wie Gender-Pay-Gap, gelöst wird. Die klassisch-deutschen Vornamen der männlichen Vorstände verraten auch, dass es nur bestimmte Männer sind, die diese Machtstrukturen aufgebaut haben und erhalten. Das wirkt sich wiederum nicht nur auf die fehlende Repräsentanz von Frauen in Führungspositionen aus.

Eine Studie der Universität Linz belegt, dass Frauen mit deutsch gelesenen Vor- und Nachnamen häufiger Einladungen zum Vorstellungsgesprächen erhalten, als Frauen mit Namen, die als türkisch-stämmig gelesen werden. Die gleiche Frau mit Kopftuch auf dem Bewerbungsfoto hat kaum noch Chancen auf eine Einladung. Bei der Verknüpfung oder Überlappung von zwei oder mehreren Diskriminierungsmerkmalen wird von Intersektionalität gesprochen.

Auch Menschen mit Behinderung sind überdurchschnittlich häufig arbeitslos oder arbeiten in sogenannten Werkstätten für behinderte Menschen. Sie verdienen dort im Durchschnitt 1,50€ pro Stunde und dürfen sich nicht gewerkschaftlich organisieren. Viele Unternehmen geben Aufträge an Werkstätten und sparen sich so die Ausgleichspauschale, die sie zahlen müssten, weil sie keine Menschen mit Behinderung beschäftigen. Einige der strukturellen Missstände und Forderungen von Menschen mit Behinderung hat Lukas Krämer in seiner Petition formuliert.

Die Liste der Gründe, warum Menschen strukturell benachteiligt werden, ist lang. Warum lernen wir kaum etwas über Diskriminierungsformen in der Schule? Wenn wir nicht bereits in Schulen beginnen, junge Menschen mit der Kompetenz auszustatten, diskriminierungsfrei zu handeln - werden wir es immer schwer haben, Diversität als Erwachsene als Wert anzuerkennen und zu leben. Es wird schwer bleiben, denn Diskriminierung wird oft durch unbewusste Handlungen ausgelöst und gefestigt.

Dabei gibt es bereits viele gute Antworten der Zivilgesellschaft. Es gibt viele hochwertige Angebote, die außerschulisch entstehen und sich einem oder mehreren Vielfaltsthemen widmen. Sie sind regional oder digital erreichbar, stellen Ressourcen und Materialien bereit, schaffen nachhaltig angelegte Programme für Schulen. Die Bildungsplattform WirfürVielfalt.de bündelt sie bundesweit zu einem didaktischen Baukasten, geordnet nach allen Vielfaltsdimensionen. Lehrpersonen finden so einen leichten Zugang und können systematisch alle Themen der Vielfalt im Unterricht behandeln.

Zu den Zukunftskompetenzen gehört es nämlich, alle Facetten der Vielfalt zu kennen, zu wissen, was strukturelle Diskriminierung bedeutet, wo sie in unserer Gesellschaft immer noch besteht und wie man selbst beitragen kann, sie abzubauen. Junge Menschen, die das in der Schule lernen, werden später im Arbeitsleben ihren Beitrag für Corporate Social Responsibility auf vielen Ebenen in Unternehmen leisten können. Sie werden sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst, Zugänge für benachteiligte Menschen zu Entscheidungsprozessen zu bauen, damit Innovationen und Ergebnisse niemanden ausgrenzen. Denn das ist schließlich eine der Voraussetzungen, die uns nachhaltig unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung sichert, in der sich auch das unternehmerische Handeln frei in Vielfalt entfalten kann.

Stana Schenck

Mit-Initiatorin WirfürVielfalt.de