Am 22. Juli 2011 tötete ein rechtsterroristischer Massenmörder in Norwegen 77 Menschen, hauptsächlich Kinder und Jugendliche. Getrieben wird er vom Hass auf den Islam und auf eine multikulturelle Gesellschaft. Auf der Insel Utøya richtet er seine Opfer regelrecht hin. Die Antwort der Norweger auf dieses feige Verbrechen ist ein starkes Signal:
“Ihr werdet unsere Demokratie und unser Engagement für eine bessere Welt nicht zerstören. Niemand kann Norwegen zum Schweigen schießen. Noch sind wir geschockt, aber wir werden unsere Werte nicht aufgeben. Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit.” Jens Stoltenberg, Ministerpräsident Norwegens
Durch den Terroranschlag wurde das norwegische Justizsystem und dessen liberale, demokratische Architektur, weltbekannt. Professor Thomas Mathiesen von der Universität Oslo: “Das norwegische System ist nicht auf Rache aus, sondern auf eine saubere, würdevolle Behandlung, auch bei den schlimmsten Verbrechern. Es ist tief in die norwegische Tradition und Werte verwurzelt.” Norwegen antwortete mit der Stimme der Menschlichkeit und des Rechtsstaats auf den brutalen Terroranschlag. Beim heftigsten antisemitischen Anschlag gegen Juden in der Geschichte der USA, am 27. Oktober 2018, tötet ein rassistischer Terrorist elf Menschen in der Tree-of-Life-Synagoge in Pittsburgh, sechs werden verletzt. Während des Anschlags ruft er: “Ich möchte alle Juden töten.” Der Terrorist wurde bei einem Schusswechsel mit der Polizei verletzt. Mindestens drei der Ärzte und Krankenpfleger, die ihn im Allegheny General Hospital verarzteten, waren jüdisch. Einer der Krankenpfleger, dessen Vater ein Rabbi ist, brach nach der Behandlung des Terroristen zusammen. “Ich sagte ihm, wie stolz ich auf ihn war.” sagte Jeffrey Cohen Präsident des Krankenhauses, der selbst Mitglied der Tree of Life Gemeinde ist. “Danach fuhr er nach Hause und umarmte seine Eltern.”
Diese Ereignisse sind Beispiele. Was hier deutlich wird, ist das Leben von Werten. Werten die tief verwurzelt sind und so, selbst in den extremsten Situationen, gelebt werden. Es sind Beispiele für gelebte Menschenrechte und wirklichen Humanismus. Werte die Grenzen aufheben und Gräben überwinden. Werte die von innerer Stärke zeugen. Werte sind keine Schwäche, kein Nachteil und so dürfen wir uns sie auch nicht auslegen lassen. Ethik und Moral sind eine innere Stärke, denn sie helfen uns zu handeln, anstatt zu reagieren. Diese Werte müssen verteidigt werden, sie müssen wehrhaft sein.
Aus Berthold Brechts “Lob des Zweifels”
Den Unbedenklichen, die niemals zweifeln
Begegnen die Bedenklichen, die niemals handeln.
Sie zweifeln nicht, um zur Entscheidung zu kommen, sondern
Um der Entscheidung auszuweichen.
Ihre Köpfe
Benützen sie nur zum Schütteln.
Mit besorgter Miene
Warnen sie Insassen sinkender Schiffe vor dem Wasser.
Unter der Axt des Mörders
Fragen sie sich, ob er nicht auch Mensch ist.
Mit der gemurmelten Bemerkung
die Sache sei noch nicht durchforscht, steigen sie ins Bett.
Wehrhaftig muss der Humanismus sein um sich zu wehren gegen alle die, die unmenschlich sind, die sich entscheiden Monster zu sein, statt Menschen. Für diese gibt es nur die Gewalt des Rechtsstaates als mögliche Antwort. Wir leben in einer Zeit des Umbruchs und in diesen offenbaren die Menschen ihre Schatten, denn ihnen fehlt der innere Kompass.
„Die alte Welt liegt im sterben, die Neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.“ Antonio Gramsci
Wir müssen uns also den Monstern entgegenstellen und zu Geburtshelfern werden. Geburtshelfern der neuen Welt. Wie diese aussieht, können wir noch nicht wissen. Wir haben aber bereits einige Ultraschallbildern sehen dürfen. Die neue Welt ist leer. Sie ist ohne Werte, ohne Kompass, sie entsteht einfach, ohne größere Idee, ohne Ziel. Dabei gefährdet sie die bestehenden Werte, zum Beispiel die der Menschenrechte. Wenn man Wissenschaft ernst nimmt, muss die neue Welt nachhaltiger und ökologischer sein. Wenn man die Erfahrungen der Geschichte ernst nimmt, muss sie sozialer und gerechter sein, da sonst eine globale Kooperation nicht möglich ist. Wenn man die Gegenwart betrachtet, muss sie liberaler sein und die Rechte des Individuums gegen digitale Machtmonopole behaupten können. Liberal im Sinne der Freiheit des Individuums, nicht im neoliberalen Sinne, der Freiheit und Unabhängigkeit der Wirtschaft. Technik wird nicht die Lösung sein, aber Technik kann uns helfen unsere Zieler leichter zu erreichen. Das heißt, es ist nicht die Frage Digitalisierung ja oder nein, sondern: wie?
Nach welchen Werten möchten wir in Zukunft leben? Welches Menschenbild möchten wir als Grundlage nehmen um unsere künstlichen Intelligenzen zu programmieren, unsere digitalen Services zu schaffen und in welchem politischen System möchten wir zusammenleben? Wenn es die Demokratie ist, wie muss sie sich verändern? Wie kann sie wehrhaft bleiben gegen die zahllosen Monster der Geschichte.
Ich bin davon überzeugt, dass eine humanistische Demokratie das 21.Jh gestalten kann, wenn wir anfangen uns die richtigen Fragen zu stellen.
Wer muss diese Fragen stellen? Die Zivilgesellschaft. Sie ist die Einheit der Demokratie die keinen Marktzwängen (Wirtschaft) und keinen Zwängen der Machtsicherung (Politik) ausgesetzt ist. Sie kann klar denken, da sie kleineren Zwängen ausgesetzt ist, sich aus der Beschleunigung der digitalen Transformation befreien und neue Räume schaffen kann, in denen gehandelt wird. Hier kann soziale Innovation entstehen. Hier können Werte und Menschenbilder entworfen werden. Die Zivilgesellschaft wurde von Antonio Gramsci als notwendiger Bestandteil der gegen den Faschismus wehrhaften Demokratie beschrieben. “Er sah darin die Gesamtheit aller nichtstaatlichen Organisationen, die auf den Alltagsverstand und die öffentliche Meinung Einfluss haben.” Die Zivilgesellschaft ist die Akteurin des Humanismus im 21. Jh.
Was braucht die Zivilgesellschaft um diese Fragen stellen zu können? Sie braucht Ressourcen, denn Geld ist Zeit und das Ehrenamt wird nicht die vollständige Lösung sein. Sie braucht Zugänge, denn ohne Wissen und Kompetenzen lässt sich nicht denken und auch nicht entwerfen. Sie braucht rechtliche Rahmenbedingungen die Innovation zulassen und neue Ideen ermöglichen. Die Zivilgesellschaft wird die großen Probleme unserer Zeit sicher nicht alleine lösen können, aber sie kann als Labor dienen, als Labor für neue, wirksame und wertegeleitete Ideen. Sie kann eine Impulsgeberin sein in einer gefährlichen Zeit.
Die Zivilgesellschaft kann auch ein Ort gelebter Menschlichkeit sein und diesen muss es geben. Denn Menschenfeinde haben keine Antworten auf die relevanten Fragestellungen unseres zivilisatorischen Projekts. Sie haben keine Antworten auf die Klimakatastrophe, die Digitalisierung, Finanzmarktstrukturen, sie haben nur Angst. Die Monster sind Parasiten der Geschichte. Denn wir brauchen Mut um zu gestalten, keine Angst.
Wir müssen der neuen Welt ein Ziel geben, wir müssen sie mitgestalten, da wir sie sonst nicht überleben können.
“Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.” Immanuel Kant
Wir brauchen gemeinsame Werte. Werte, die Grenzen aufheben und Gräben überwinden. Werte, die jedem Individuum die gleichen Rechte gewähren. Menschenrechte.
Dieser Artikel erschien zunächst auf Tobias Oertel's Blog. Hat er dir gefallen? Dann lese hier den ersten Beitrag von Tobias auf tbd*.
Tobias Oertel ist Experte für die Themen Innovation und Digitalisierung in der Zivilgesellschaft. Er ist Mitgründer der Engagementplattform für Digitalexpert*innen und Kreative youvo.org. Zu gesellschaftlichen Themen schreibt er auf seinem Medium-Blog und auf Twitter. Dieser Artikel erschien zunächst auf seinem Blog.