Ursprünglich erschienen Mai 2016
Trotz zahlreicher Reformen um Chancengerechtigkeit weist unser deutsches Bildungssystem noch immer viele Mängel auf. So bestimmen Einkommen und Bildungsstatus der Eltern noch immer viel zu häufig über die Zukunftsperspektiven der Kinder. Murat Vural war selbst ein Schüler, der aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse durch das Raster fiel. Um das zu ändern und Schülern, unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund, endlich mehr Perspektive zu geben, gründete er 2004 Chancenwerk e.V.. Im Interview erzählt er warum seine MitarbeiterInnen gerne für Chancenwerk arbeiten und was der Verein braucht, um noch mehr Wirkung zu erzielen.
Was ist Chancenwerk und woher kommt die Idee?
Chancenwerk e.V. ist ein gemeinnütziger Verein und Träger der freien Jugendhilfe. Seit über zwölf Jahren setzen wir uns mit unserer Lernkaskade für Chancengerechtigkeit in der Bildung ein. Chancenwerk e.V. fördert Kinder und Jugendliche durch ein Angebot an Bildungsprojekten beim Lernen in Schulen unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund sowie der finanziellen Mittel ihrer Eltern. Wir sind an 57 Schulen in über 25 Städten in sieben Bundesländern aktiv.
Die Lernförderung von Chancenwerk e.V. ist eine Kette des Lernens und Helfens auf Augenhöhe: Schülerinnen und Schüler aus höheren Jahrgängen erhalten kostenfrei Nachhilfe in einem Fach ihrer Wahl, die sie von Studierenden aus dem Chancenwerk-Team erhalten. Dafür betreuen sie als Lerntutoren jüngere Mitschülerinnen und Mitschüler bei den Hausaufgaben und bereiten sie auf Klassenarbeiten und Tests vor. Die Tauschwährung ist für sie also Wissen und Zeit, nicht das Geld. So funktioniert die Lernkaskade unseres Vereins. Jeder, der Hilfe in Anspruch nimmt, muss dafür auch Unterstützung anbieten und eine Vorbildfunktion einnehmen. So wird Lernunterstützung ohne finanzielle Hürden möglich.
Im Jahr 2004 habe ich den Verein mit meiner Schwester, Şerife, und zehn weiteren betroffenen Studierenden und Eltern gegründet. Meine Schwester und ich sind beide in Deutschland geboren und aufgewachsen. Unsere Eltern kommen aus der Türkei. In der Schule haben wir schnell bemerkt, dass uns die deutsche Sprache Probleme bereitet, denn unser Umfeld wie die Familie und die Nachbarschaft waren durch die türkische Sprache geprägt. Unsere Eltern zogen kurz darauf mit uns in die Türkei. Wenige Jahre später kehrten wir wieder zurück nach Deutschland – ich war damals 16 Jahre alt. Aufgrund mangelhafter Deutschkenntnisse landete ich zunächst in der neunten Klasse der Hauptschule. Mein Wunsch war jedoch das Gymnasium zu besuchen, worauf ich mir oft anhören musste: „Das schaffst du nicht, das kriegst du nicht hin mit dem Abitur.“ Mich hat das aber nicht entmutigt. Im Gegenteil, ich hatte Selbstvertrauen und habe immer weiter gemacht und es auf das Gymnasium geschafft. Ich absolvierte das Abitur und schloss im Anschluss ein Studium im Ingenieurswesen an. Dennoch habe ich gesehen, dass es viele Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien nicht schaffen, die Hindernisse auf dem Weg zur Bildung zu überwinden. Ihnen fehlt es oft an Selbstvertrauen und an dem Glauben an sich selbst. Das wollten wir ändern, etwas zurückgeben und als Vorbilder für andere Kinder agieren. Daher haben wir Chancenwerk e.V. gegründet.
Was unterscheidet Euch von anderen Nachhilfe Projekten? Kann man Chancenwerk als eine Art Mentoring Programm sehen?
Das Besondere an Chancenwerk e.V. ist zweifelsfrei die Unternehmensmentalität und die Begeisterung aller Beteiligten. Auf die Frage „Wieso bist du beim Chancenwerk?“ antworten die Mitarbeiter mit „Für mich ist es das Größte, wenn die Kinder sehen, was sie drauf haben!“ oder „Weil ich als Schüler auch gern diese Chance gehabt hätte“. Der Glaube an ein gemeinsames Ziel und persönliche Betroffenheit wirken als Motivationsmotoren.
Doch Chancenwerk e.V. hebt sich nicht nur durch die Einstellung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter deutlich von kommerziellen Nachhilfeangeboten ab. Wir sind direkt in den Schulen aktiv. Dazu ist es uns besonders wichtig, dass jeder mitmachen kann – die schlechten sowie die guten Schülerinnen und Schüler, die Jüngeren und die Älteren, diejenigen, die Geld haben oder eben keines - jeder erhält seine Chance.
Außerdem entsteht neben der reinen Wissensvermittlung noch viel mehr Positives: Die Schülerinnen und Schüler lernen frühzeitig, dass man anderen „Bildung geben“ kann und gewinnen an Sozialkompetenz, Verantwortungsbewusstsein und Selbstvertrauen. Sie sehen, dass sie etwas ändern können; für sich und für andere.
Damit eine solche Wirkung erzielt werden kann, begleitet Chancenwerk e.V. die Lernkaskaden an den Schulen sehr intensiv und bereitet die älteren Schülerinnen und Schüler sowie die Studierenden mit Fortbildungen unserer Chancenwerk-Akademie auf ihre jeweilige Rolle vor.
Was sind Deiner Meinung nach die größten Herausforderungen unseres Bildungssystems?
Studien zeigen es seit mehreren Jahren: Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien zählen regelmäßig zu den Bildungsverlierern in Deutschland. Somit sehe ich es als große Herausforderung, dieser Bildungsbenachteiligung, d.h. dem Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und dem Bildungserfolg, entgegenzuwirken. Chancenwerk e.V. hat eine Lösung für dieses Problem gefunden und bietet jedem teilnehmenden Kind einen Zugang zur Bildung.
Weiter stellt der stetig steigende Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund insbesondere unter der jüngeren Bevölkerung das Bildungssystem vor die Aufgabe, die besonderen Bildungsbedarfe und Fähigkeiten dieser Bevölkerungsgruppe in angemessener Weise zu berücksichtigen. Auch der Zustrom von vielen geflüchteten Menschen stellt das Bildungssystem vor neue Herausforderungen. Die jungen Geflüchteten müssen in Schule und Ausbildung integriert werden und ihren Platz in der Gesellschaft finden können. Chancenwerk e.V. hat aus diesem Grund seit dem letzten Jahr auch ein Konzept für geflüchtete Kinder ins Programm aufgenommen und erste Pilotprojekte in Berlin und Duisburg umgesetzt.
Insgesamt verstehe ich alternative Bildungsangebote als essentiell, welche die formalen Bildungsangebote ergänzen. Längeres gemeinsames Lernen und eine individuelle Förderung der Kinder im Schulwesen gewinnen immer mehr an Bedeutung. Außerdem ist es wichtig, dass junge Menschen Bildung auch in informellen Lernumgebungen kulturell, lebenspraktisch und sozial erfahren.
Was sind Deine Top 3 Learnings für andere Menschen, die etwas im Bildungssystem verändern möchten?
Einfach anpacken, Verantwortung übernehmen und selbst etwas verändern. Jeder Mensch kann ein Vorbild sein und jeder kann mit seinem eigenen Wissen und seinem eigenen Handeln etwas bewirken. Der Wandel muss durch uns alle kommen.
Außerdem sollte jeder ein Verständnis und ein Bewusstsein für Menschen aus anderen sozialen Schichten und deren Problemen haben. Wir müssen auch die Kinder fördern, die aus bildungsferneren und finanziell schwächeren Familien kommen.
Was braucht Ihr noch, um eine weitere Wirkung zu erzielen?
Wir suchen fortlaufend kompetente Mitarbeiter und interessierte Studierende, die sich für die Idee hinter Chancenwerk e.V. begeistern und unsere Arbeit mitgestalten möchten. Wir freuen uns neben den Bewerbungen für unsere ausgeschriebenen Stellen auch jederzeit über Initiativbewerbungen.
Wir benötigen außerdem Schulen, die mit uns kooperieren, sowie Stiftungen, Unternehmen und Förderpartner, um die Angebote langfristig ohne Zugangshürden für sozial benachteiligte Jugendliche zu erhalten und zu finanzieren. Wir können uns dadurch auf das Wesentliche unserer Arbeit – auf die Kinder – konzentrieren. Durch die Gewinnung weiterer Förderpartner möchte Chancenwerk e.V. noch mehr Kinder und Jugendliche unterstützen.
Schulen, Stiftungen und Unternehmen, die die Chancenwerk-Idee vor Ort umsetzen sowie unterstützen möchten, können sich jederzeit an uns wenden. Spenden sind selbstverständlich auch immer herzlich Willkommen.
Was macht Dich zu einem Changer?
Wir wirken der Bildungsbenachteiligung nachhaltig entgegen. Mit der langfristigen Umsetzung der Lernkaskade wird ein nachhaltiges bzw. „nachwachsendes“ System geschaffen, mit dem junge Menschen umfassend gefördert und ihnen neue Perspektiven eröffnet werden. Es geht um Zutrauen, ein Miteinander und um Vorbilder. Wir fördern die Talente sowie die Integration der Schülerinnen und Schüler individuell. Und noch mehr: Indem wir jungen Menschen zu sozialem Engagement und Bildung verhelfen, definiert sich die Schulgemeinschaft und die Lernkultur neu. Durch ein weiteres Projekt von Chancenwerk e.V., ChancenWORK, tragen wir zudem zur Ausbildungsreife von Kindern und Jugendlichen bei, wovon auch Auszubildende sowie Unternehmen profitieren.
Unser Lernkaskade hat schon sehr viele Schülerinnen und Schüler erreicht. Aktuell erfahren mehr als 3000 Schülerinnen und Schüler an 57 Schulen bundesweit jede Woche auf diese Weise Unterstützung. Dieser Erfolg treibt Chancenwerk e.V. an und natürlich auch das Vertrauen und die Herzlichkeit, die uns die Kinder immer wieder entgegenbringen.