Wisst Ihr noch, vor drei oder vier Jahren gab es eine äußerst "leidenschaftlich" geführte Diskussion über zwei-drei an die Öffentlichkeit gekommene Fälle, bei denen Muslim*innen dem anderen Geschlecht zur Begrüßung nicht die Hand geben wollten. Nicht, weil sie unhöflich waren, sondern weil das ihrem religiösen Verständnis gemäß ein Ausdruck von Respekt ist. Damals gab es viel aufgebauschte Aufregung, das unselige Wort „Integration“ fiel häufig, und der Händedruck wurde vehement als normativer und alternativloser Begrüßungsritus in Europa verteidigt, dem sich alle zu beugen hätten, die hier leben wollten. Und dann… nun, dann kam Corona und stellte so einiges auf den Kopf, was bis dahin als normal galt, und wir stellten schnell fest: Das Abendland kann überraschend kreativ sein, wenn es um kontaktlose Begrüßungsformen geht!
Ich bin nicht so ein Fan von gängigen Normalitäten. Das mag an meiner Neurodivergenz liegen, ich lerne soziale Normen nicht immer automatisch, und wenn ich ihnen auf die Spur komme (ein Prozess, der auch jetzt mit Anfang 40 noch nicht abgeschlossen ist), finde ich sie häufig schräg.
Let’s normalize:
- Lücken im Lebenslauf
- übers Gehalt reden (denn wenn wir es nicht tun, begünstigt das jene, die von diskriminierenden Pay Gaps profitieren)
- Um Hilfe bitten
- Angebotene Hilfe annehmen
- Männer in Elternzeit und Teilzeit
- Mental Health Days (wenn es mir schlecht geht, geht es mir schlecht. Und vielleicht merke ich es sogar kurz vor dem Zusammenbruch – auch das ist ein guter Zeitpunkt, um sich krankzumelden. Ich muss nicht warten, bis es mir „schlecht genug“ geht.)
- Für Fehler Verantwortung zu übernehmen
- Dinge gut genug statt perfekt zu erledigen (wann etwas fertig ist, ist häufig schlicht eine Entscheidung!)
- Rechtschreibfehler
- Pünktlich Feierabend zu machen
- Boundarys formulieren
- „Ah, das habe ich noch nicht gewusst. Danke!“
- Verstehen, dass Faulheit nicht existiert
- „Du hattest Recht“
- Bei Anfragen für Panels, Vorträge, Festivals, Ausstellungen, Beiträgen für Textsammlungen zu fragen wer noch beteiligt ist und bei fehlender Diversität der Beteiligten Vorschläge für geeignete Kandidat*innen zu machen und ggf. ablehnen
- Freinehmen ohne Begründung
- Das Maß an Produktivität als lineare Angelegenheit vorauszusetzen
- „Dein Vorschlag gefällt mir besser als meiner. Machen wir so!“
- Pausen als Bestandteil von Arbeitszeit (auch für Nichtraucher*innen)
- Nachteilsausgleiche eigenständig selbst gestalten
- Bezahlung von der Qualität der Leistung abhängig machen, nicht von Abschlüssen/Zertifikaten
Let’s denormalize:
- 40-Stunden-Woche
- Befristete Arbeitsverträge
- Braune und Schwarze Menschen nach ihrer Herkunft zu fragen
- Frauen nach ihren Familienplänen zu fragen
- Lohnarbeit im Leben zu priorisieren
- Bonuszahlung für Mitarbeiter*innen, die sich nicht krankmelden (weil ableistisch)
- Überstunden
- Deadlines und Workloads, die Überstunden erfordern
- Im Home Office eigene Ressourcen (Strom, Laptop, etc) zur Verfügung zu stellen
- Menschen als Humankapital zu entmenschlichen
- So wenig wie nur möglich bezahlen zu wollen
- Meetings am Freitagnachmittag
- Unpünktlichkeit als Charakterdefizit zu betrachten
Irgendwie ist dieses ganze Lohnarbeits-Ding ganz schön außer Kontrolle. Lass das mal alles anders handhaben, ok?
Mit dieser Kolumne möchten wir gemeinsam mit unseren Freund*innen von Wildling Shoes den Themen Antidiskriminierung, Belonging und Intersektionalität am Arbeitsplatz mehr Raum und Sichtbarkeit geben. Durch Artikel, Interviews und verschiedene Perspektiven wollen wir uns und alle, die im Impact-Sektor arbeiten herausfordern und inspirieren. Und gleichzeitig ermutigen, authentisch gelebte Arbeitsbereiche zu schaffen, die Zugehörigkeit fördern und Diskriminierung reduzieren. Indem wir neue Perspektiven gewinnen und einen gemeinsamen Dialog führen können wir einen kollektiven Schritt in Richtung eines radikalen Systemwandels im Impact-Sektor gehen – von „Macht über“ und „Macht für“ zu „Macht mit“. Unsere Kolumnist*in für das Jahr 2022 ist Sohra Behmanesh.
Sohra Behmanesh lebt mit ihrer Familie in Berlin, arbeitet als freiberufliche Anti-Rassismus-Trainerin und findet Fürsorge und Empathie ebenso großartig wie Intersektionalität.
Hier könnt ihr mehr Artikel aus der Belonging Kolumne lesen: https://www.tbd.community/en/t/to-belonging
Foto: Kris Wolf