Menschen mit Kindern in Workspaces ihre Realität erlauben

Aus Versehen neoliberal und konservativ?

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von Sohra Behmanesh, April 28, 2022
Menschen mit Kindern in Workspaces ihre Realität erlauben

Vor fünf Jahren ging das Video vom „BBC Dad“ viral; ein Professor, der dem BBC offenbar aus dem Homeoffice ein Interview gab, das von seinen beiden entzückenden Kindern gecrasht wurde.

Und der meistgelikte Kommentar unter dem YouTube-Video wird bei vielen Eltern heftiges innerliches Kopfnicken auslösen:

Screenshot eines Kommentars von „spoyledbratt“, datiert auf „vor 1 Jahr”: „2017: We laugh at him. 2020: We relate to him.“ 57.576 Likes

Deutsch: 2017: Wir lachen ihn aus. 2020: Wir können uns mit ihm identifzieren.

Seit 2017 hat sich etwas grundlegend verändert – die Pandemie hat viele Menschen ins Home Office gezwungen, für manche ein Segen, für manche so gar nicht. Aber etwas, das dieses Video deutlich macht, hat sich nicht verändert: Menschen, die einer Lohnarbeit nachgehen, müssen im Kontext der Lohnarbeit so tun, als hätten sie keine Kinder. Read that again: Menschen, die einer Lohnarbeit nachgehen, müssen im Kontext der Lohnarbeit so tun, als hätten sie keine Kinder. 

Robert Kelly, der Mann aus dem Video, war sichtlich peinlich berührt, als zunächst sein Kind antanzte und kurz danach sein Baby reinrollte, aber stoisch bemüht, so zu tun, als sei nichts. Er richtete das Wort nicht etwa kurz an sein Kind, um ihm zu sagen, dass er gerade nicht gestört werden könne, sondern sein Blick blieb auch dann starr auf die Kamera gerichtet, als er unbeholfen mit einem Arm nach hinten tastend versuchte, sein Kind unbemerkt wegzuschieben. Und auch seine Frau Jung-a Kim (erinnert Ihr Euch daran, wie der Rassismus in uns sie am Anfang, als das Video viral ging, als Nanny vermutet hat?) die unmittelbar danach panisch reinschlitterte, um die Kinder rauszuschleppen, ging flach gebückt, die Kinder über den Boden schleifend, wohl in der Hoffnung, möglichst unauffällig die Störung aus dem Bild zu schaffen. Natürlich war nichts an dieser Szene unauffällig. Aber sie haben es versucht.

Robert Kelly erzählte später, dass er Angst gehabt habe, dass er wegen dieses Vorfalls nie wieder vom BBC als Interview-Partner angefragt würde. Und das sagt uns viel darüber, was wir unter Professionalität und Seriosität verstehen (und da höre ich schon ein neues Kolumnen-Thema trapsen): Störungen sind unerwünscht. Auch jene von den eigenen Kindern. 

Das virale Video erntete viele lustige Reaktionen, eins davon kam von Comedians aus Neuseeland, und sollte satirisch zeigen, wie das Interview gelaufen wäre, wenn es eine Mutter gewesen wäre, die bei einer Live-Schaltung von ihren Kindern unterbrochen worden wäre:

Ich fand’s witzig, aber natürlich unwahr. Auch wenn Care-Arbeit nach wie fast ausschließlich von Müttern geleistet wird, die somit zusammen mit der Lohnarbeit dauerhaft mit unfassbar vielen Bälle auf einmal jonglieren müssen, gilt: Mütter müssen ihre Kinder aus dem Bereich Lohnarbeit wegorganisieren, wenn sie als professionell wahrgenommen werden wollen. Man darf Müttern ihre Mutterschaft nicht anmerken. Und weil die Realität so aussieht, dass Frauen (in heterosexuellen Beziehungen) nach wie vor den allermeisten Teil von Care-Arbeit leisten, merkt man ihnen natürlich doch an, wenn sie Mütter sind. Und das sollte uns als Gesellschaft in Verantwortung nehmen, von den Vätern angefangen, über die Arbeit- und Auftraggeber*innen bis hin zu Kund*innen. Wenn wir als Gesellschaft gerecht mit dem Umstand umgehen wollen, dass für viele Menschen Kinder zu ihrer Lebensrealität gehören,  dann müssen wir die Herausforderungen, die die Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf mit sich bringen, mitdenken und berücksichtigen.

Die Realität sieht jedoch anders aus. Müttern schadet es, wenn sie länger in Elternzeit gehen und sich damit eine längere berufliche Auszeit nehmen. Und es schadet ihnen noch mehr, wenn sie kürzer in Elternzeit gehen! Dann werden sie von Personaler*innen nämlich als unsympathisch, zu ehrgeizig, zu wenig warmherzig wahrgenommen, und seltener zu Bewerbungsgesprächen eingeladen. Und der Aufruhr, den die damalige französische Justizministerin Rachida Dati ausgelöst hat, weil sie 2009 fünf Tage nach der Geburt ihres Kindes wieder zum Dienst angetreten ist, war so gewaltig, dass er mir immer noch gut in Erinnerung ist. (Wir als Gesellschaft finden es allerdings nicht so schlimm, wenn Models wie Heidi Klum wenige Wochen nach der Geburt wieder über den Laufsteg laufen, und auch das gehört zum Problem: Weil wir nämlich gutheißen, dass man ihrem Körper nicht ansieht, gerade ein Kind geboren zu haben und sie das zeigen.) Wenn Mütter also längere Elternzeit nehmen, ist es falsch, wenn sie eine kürzere Elternzeit nehmen, ist es auch falsch. Und wenn sie ihr Baby mit zur Arbeit nehmen? Natürlich auch falsch, wie die Grünen-Abgeordnete Madeleine Henfling 2018 erfahren musste: Sie hatte ihr sechs Wochen altes schlafendes Baby in einer Babytrage zu einer Plenarsitzung mitgebracht – und wurde vom Landtagspräsidenten rausgeschmissen.

Diese elternfeindliche (und in Wirklichkeit eben mütterfeindliche) Haltung zieht sich durch die gesamte Arbeitswelt, auch Arbeitgeber*innen, die sich flache Hierarchien oder soziale Inhalte auf die Fahne schreiben, stellen ihre in dieser Hinsicht neoliberale Unternehmensstruktur in Verbindung mit kaum verhohlenen traditionellen, konservativen Rollenbildern kaum in Frage. Dabei ist klar: Das Arbeitsmodell von der 40-Stunden-Woche (plus Überstunden) ist darauf ausgelegt, dass die Person, die lohnarbeitet, jemanden zu Hause hat, die sich um alles andere kümmert: Haushalt, Kinderversorgung, Bürokratie, Organisation. Das entspricht nicht der heutigen Wirklichkeit, und doch gilt nach wie vor die Vorstellung, dass eine arbeitnehmende Person vollständig für den Betrieb verfügbar sein soll. Einer Freundin wurde vor einiger Zeit bei einem Bewerbungsgespräch für eine führende Position bei einer der bekanntesten deutschen Tierrechtsorganisationen von den beiden männlichen Chefs ihre Qualifikation für die Stelle bescheinigt – allerdings [strenger Blick] gäbe es ja „ein Problem“. Gemeint war: ihre Mutterschaft. 

Initiativen wie #ProParents setzen sich für eine rechtliche Gleichbehandlung von Eltern ein, von ihren Gründer*innen erscheint im September das Buch „Glückwunsch zum Baby, Sie sind gefeuert! Diskriminierung von Eltern im Job: Fallgeschichten von Betroffenen und Lösungsvorsätze“. Aber es gibt ja bereits einige gesetzliche Schutzmaßnahmen, wie etwa das Recht Teilzeitarbeit oder das Recht auf einen gleichwertigen Arbeitsplatz nach der Rückkehr von der Elternzeit, aber das funktioniert in der Umsetzung nicht, wie diese Erfahrungsberichte zeigen. Und deshalb finde ich fast wichtiger, dass wir als Gesellschaft, und konkret als Vorgesetzte, Personaler*innen und Kolleg*innen unsere Haltung zu Elternschaft – insbesondere zu Mutterschaft – selbstkritisch hinterfragen. Und damit auch, wie wir zu (Un-)Gerechtigkeit am Arbeitsplatz konkret und aktiv beitragen.

Wenn es Unternehmen eigentlich ein wichtiger Wert ist, ihre Angestellten nicht als „Humankapital“ zu entmenschlichen, gehört das unabdingbar dazu: Uns bewusst machen, wie sehr die gängige Haltung zu Elternschaft – angefangen bei der Schwangerschaft – davon geprägt ist, diese zu problematisieren und als unerwünschte Störung des Betriebs wahrzunehmen, statt als normale Variable, die es mitzuplanen gilt. Alles andere ist eine automatische und explizite Entsolidarisierung mit Eltern, und aufgrund faktisch ungleich verteilter Verantwortung für elterliche Care-Arbeit, automatisch misogyn. Das kann dann z.B. so aussehen:

  • Stellenanzeigen, die ohne tatsächliche Notwendigkeit „Flexibilität“ fordern.
  • Meetings (auch informelle!) und Fortbildungen, die außerhalb der Arbeitszeit von Teilzeitarbeitenden liegen.
  • E-Mails nach Feierabend oder an Wochenenden.
  • Kolleginnen, die Kinder haben, nicht zuzutrauen, Vollzeit arbeiten zu können und bei entsprechenden Planungen, Beförderungen und Bewerbungen nicht zu berücksichtigen.
  • Kolleginnen, die Kinder haben, charakterliche Defizite zu unterstellen, wenn diese Vollzeit arbeiten möchten oder kurze Elternzeit nehmen.
  • Kolleginnen, die Kinder haben und Teilzeit arbeiten, Verlässlichkeit, berufliche Ambitionen, Aufstiegschancen und Führungspositionen absprechen.
  • Eltern vermeintliche Bevorzugungen neiden und sich selbst als Kinderlose benachteiligt wähnen (z.B. bei der Urlaubsplanung oder Mutterschutzmaßnahmen)
  • Verständnislosigkeit oder Genervtsein, wenn Eltern wegen ihrer Kinder ausfallen oder an die Bring- und Abholzeiten der Kita gebunden sind.
  • Die Einstellung: „Na ja, Eltern haben es sich ja so ausgesucht…“
  • Das Hinnehmen und die Normalisierung elterlicher Tiefenerschöpfung

Zwischen der Glorifizierung von Müttern („Mütter sind Heldinnen! Du schaffst das!!“) und ihrer Abwertung („Auf die kann man sich nicht mehr verlassen.“) findet wenig statt. Gemeinsam haben beide Pole, dass sie Mütter alleine lassen und ihnen Teilhabe und Chancengleichheit und verwehren. Und da braucht es nicht weniger als einen Paradigmenwechsel, bei dem die Unternehmensstruktur den Wert von Verteilungsgerechtigkeit kultivieren will – und konkret betriebliche Familienfreundlichkeit umsetzt. Und da braucht es mehr als Lippenbekenntnisse. Wie wäre es z.B. unbürokratisch mit einer extra Woche Urlaub für alle Eltern in diesem Jahr, als Anerkennung und Ausgleich für die gigantische Herausforderung und Überlastung, die Corona für sie bedeutet?

Kinder zu bekommen ist kein persönliches Hobby, das Eltern sich extravaganterweise leisten, und deshalb gefälligst zusehen sollen, dass sie das alleine und unauffällig wuppen – und selbst Schuld sind, wenn sie es nicht schaffen. Elternschaft ist eine höchst menschliche Variante des Menschseins.

Mich hat das Parodie-Video auf den BBC-Dad übrigens nachhaltig inspiriert. Vor einiger Zeit habe ich aus dem Home-Office ein Online-Seminar zu rassismuskritischer Pädaogik gegeben. Es war alles organisiert, mein Mann übernahm die Kinder und war die meiste Zeit unterwegs, damit ich unsere recht kleine Wohnung in Ruhe für mich habe. Für uns ist das nicht ungewöhnlich, mein Mann übernimmt zu weiten Teilen unseres Alltags deutlich mehr als 50% der Care- und Hausarbeit. Was aber ungewöhnlich war: Als sie zurückkamen, gab mir mein jüngeres Kind nicht kurz Küsschen und Umarmung, um sich dann dem Abendprogramm mit seinem Papa zu widmen, sondern brach weinend zusammen, bestand weinend auf seine Mama – und fühlte sich sehr, sehr warm an. Sowas ist nicht planbar, den Tag über wirkte es noch völlig gesund.

Mein Mann schwitzte Blut und Wasser, weil es ja seine Aufgabe war, mir die Zeit für mein Seminar freizuhalten. Und ohne den BBC-Dad und meine Auseinandersetzung mit genau diesem Thema wäre auch ich in höchste und peinlich berührte Not geraten. Aber so war ich ganz entspannt und klar: Ich erlaubte mir meine Realität. Ich entschuldigte mich bei den Teilnehmer*innen, klärte mit meiner Familie die Optionen, und für den Rest des Seminars lag mein Kind ruhig bei mir, mit dem Köpfchen auf meinem Schoß und ich führte entspannt mein Seminar zu Ende. Ich weiß, das fanden nicht alle professionell und seriös – ich finde allerdings, dass ich die Situation – in aller Bescheidenheit – ganz schön souverän gelöst habe. Und ich finde ja auch, dass wir ein neues Verständnis von Souveränität und Professionalität brauchen. Aber dazu ein anderes Mal mehr.

 

Mit dieser Kolumne möchten wir gemeinsam mit unseren Freund*innen von Wildling Shoes den Themen Antidiskriminierung, Belonging und Intersektionalität am Arbeitsplatz mehr Raum und Sichtbarkeit geben. Durch Artikel, Interviews und verschiedene Perspektiven wollen wir uns und alle, die im Impact-Sektor arbeiten herausfordern und inspirieren. Und gleichzeitig ermutigen, authentisch gelebte Arbeitsbereiche zu schaffen, die Zugehörigkeit fördern und Diskriminierung reduzieren. Indem wir neue Perspektiven gewinnen und einen gemeinsamen Dialog führen können wir einen kollektiven Schritt in Richtung eines radikalen Systemwandels im Impact-Sektor gehen – von „Macht über“ und „Macht für“ zu „Macht mit“. Unsere Kolumnist*in für das Jahr 2022 ist Sohra Behmanesh.