Trinkgeld bedeutet Wertschätzung

Warum nicht auch Näher*innen Trinkgeld geben? Ausgehend von dieser Frage hat Jonathan das Sozialunternehmen tip me gegründet.

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von Sofia Jacobi, April 29, 2020
Das Logo von tip me

In den meisten Ländern der Welt ist es üblich Kellner*innen ein Trinkgeld zu geben. Dadurch honoriert man den Service, der einem Zuteil wurde und damit die Arbeit des Personals. In den meisten Branchen außerhalb des Gastronomiegewerbes ist es unüblich Trinkgeld zu geben.

Das Sozialunternehmen tip me möchte das ändern.  Die Idee: wenn man ein Produkt kauft, erhält man die Möglichkeit dem Arbeiter oder der Arbeiterin, die am Fertigungsprozess beteiligt war, Trinkgeld zukommen zu lassen. Wir haben mit Jonathan Funke, dem Gründer von tip me gesprochen und ihm ein paar Fragen zu Konzept und Umsetzung gestellt.

tbd*: Lieber Jonathan, erzähle mir von tip me – wie ist die Idee entstanden und um was handelt es sich genau?

Die Idee für tip me entstand bei einer Demonstration gegen das Fast-Fashion-Unternehmen Primark. 2014 eröffnete die erste Filiale in Deutschland am Berliner Alexanderplatz. Während die Massen an Menschen wartete, dass endlich die Tore öffnen, habe ich in der Schlange Flyer verteilt. Dort stand: Nur 3% vom Preis, den Du für ein T-Shirt bezahlst, kommt bei den Näher*innen an. Im Gespräch mit den Konsument*innen merkte ich mehr und mehr: Den Wenigsten war bewusst, dass hinter jedem Produkt ein Mensch steht. Viele dachten, die Klamotten fallen aus der Maschine.


Jonathan (links) mit seinen Mitgründer*innen Helen und Oliver; © tip me

Daraus entstand die Idee von tip me: Ein Unternehmen, dass eine direkte Verbindung zwischen Dir und den Näher*innen Deines Produkts herstellt. So können wir alle das Produkt und die Arbeit, die darin steckt, ganz anders wertschätzen. Und mit einem globalen Trinkgeld direkt an die Näher*innen kannst Du Deine Wertschätzung auch direkt zeigen. Im Café geben wir alle ca. 10% Trinkgeld. Ein globales Trinkgeld von 10% ist ein unglaublich wirksamer Hebel, um Menschen im globalen Süden direkt und wirksam darin zu unterstützen, ihre eigenen Ziele und Träume zu erfüllen. Es ist keine Spende, sondern eine Wertschätzung für gute Arbeit. Damit wollen wir eine globale Begegnung auf Augenhöhe schaffen.

tbd*: Wie sah der Weg von der Idee zur konkreten Gründung aus? Hattet ihr bestimmte Meilensteine oder Rückschläge, die du gerne teilen würdest?

tip me zu gründen war eine ziemliche Achterbahnfahrt. Ich habe das Unternehmen zuerst alleine gestartet. Nach ein paar kleinen Vorträgen landete das Thema in ersten großen Zeitungen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich nicht mal eine Website. Die ersten großen Unternehmen und Supermärkte klopften an, wann sie denn unsere Software benutzen können. Die gab es nur leider nicht.

Zum Glück habe ich dann in genau dem richtigen Moment meinen Mitgründer Robin Collin kennengelernt, der alles mitbrachte, was mir fehlte. Als IT-Entwickler und Lieferketten-Experte mit Erfahrung bei Ford konnte er Struktur und Ruhe in das Unternehmen bringen. Zusammen haben wir erstmal ganz klein angefangen: Trinkgeld für syrische Geflüchtete in Deutschland sammeln. Via Paypal. Ausprobieren, ob und wie es funktioniert. Und dann langsam größer werden.

Als wir dann gesehen haben, dass über 60% der Konsument*innen Trinkgeld an Mohammed aus Damaskus geben und er dadurch seinen deutschen Führerschein machen konnte, sind wir den nächsten Schritt gegangen. Gemeinsam mit der fairen Sneaker-Marke ethletic sind wir in ihre Fabrik in Pakistan gereist, um gemeinsam mit den Arbeiter*innen vor Ort das Trinkgeld-System aufzusetzen. Denn wir glauben, dass in allen Projekten der Entwicklungszusammenarbeit die Empfänger*innen den Prozess und die Outcomes gestalten sollten. Auch das ist Wertschätzung. Vor Ort haben wir gesehen, dass selbst in einer fairen Fabrik unsere Arbeit und das Trinkgeld unserer Community einen massiven Unterschied macht. Jede*r Arbeiter*in hat einen persönlichen Wunsch. Selbst mit einem Fairtrade-Lohn 150 US-Dollar im Monat ist das schwer zu erreichen.

Globales Trinkgeld kann deshalb zwei Dinge für diese Menschen möglich machen: Einerseits können sie ihren eigenen Zielen näher kommen; endlich ihr Motorrad reparieren, ihr Kind auf eine gute Universität schicken oder ein eigenes Geschäft aufmachen. Andererseits bekommen sie ein kleines Dankeschön vom anderen Ende des Globus für ihre tagtägliche Arbeit. Und das macht viel mit einem. Eigentlich könnten wir das alle mal gebrauchen.


Ein Arbeiter hat Trinkgeld auf sein Handy erhalten; © tip me

tbd*: Gibt es einen Auswahlprozess für Partnerunternehmen? Bei wem kann man Arbeiter*innen bereits via tip me unterstützen?

tip me arbeitet ausschließlich mit Unternehmen, die sich an die Standards der Arbeiterorganisation ILO der Vereinten Nationen halten. Das heißt: keine Kinderarbeit, schriftliche Verträge, Versammlungsfreiheit, gute Löhne etc. Wir merken außerdem bei unsere Partnerunternehmen eine gewisse „natürliche Selektion“: Unternehmen wie Primark & Co. haben Angst vor Transparenz. Sie wollen nicht zeigen, wer unter welchen Umständen ihre Kleidung herstellt. Auf der anderen Seite gibt es Unternehmen, die stolz darauf sind, wie ihre Produktion abläuft. Und die können das mit der direkten Verbindung von Konsument*in und Produzent*in viel besser kommunizieren.

Die ersten drei Unternehmen, die globales Trinkgeld ermöglichen sind:

Bayti hier zeigt mit Mode, dass kultureller Austausch für alle ein Gewinn ist. Mohammed aus Syrien verbindet orientalische Stoffe mit westlicher Mode. Und hat mit dem Trinkgeld seinen deutschen Führerschein gemacht.

Ethletic hat den Fairtrade Award gewonnen, weil sie bei ihren Schuhen die Extra Meile Richtung Fairness gehen. In der Fabrik in Pakistan bekommen alle Arbeiter*innen existenzsichernde Löhne, gratis Krankenversicherung, Mittagessen und Schulmaterial für die Kinder.

DAWN denim hat seine eigene Fabrik in Saigon, Vietnam. Sie sind die einzige Marke, die je 100/100 Punkten beim Brand Performance Check der Fair Wear Foundation erreicht haben.

Und in den nächsten Wochen werden noch einige Weitere dazu kommen. Wir haben gerade mehr Anfragen, als wir abarbeiten können.

tbd*: In den USA finanziert sich das Gehalt von Kellner*innen üblicherweise zum größten Teil durch Trinkgelder. Das hat im Laufe der Zeit dazu geführt, dass Arbeitgeber*innen im Gastronomiebereich die Gehälter gedrückt haben und den Endverbraucher*innen die „Verantwortung“ für die ausreichende Entlohnung überlassen haben. Wie stellt ihr sicher, dass das nicht auch mit euren Trinkgeldern so verläuft?

Alle Stakeholder, Unternehmen, Fabriken und Gewerkschaften, wissen, dass das globale Trinkgeld eine zusätzliche Wertschätzung zum guten Lohn ist. Ein guter Lohn deckt alle täglichen Ausgaben, also Essen, Wohnen, Gesundheit etc. Das globale Trinkgeld ermöglicht Arbeiter*innen weltweit in ihre Zukunft und die Zukunft ihrer Kinder zu investieren.

tip me hat zusätzlich eine Software entwickelt, die überprüft, dass Löhne nicht gesenkt werden. Wir erstellen für jede*m einzelne*n Arbeiter*in eine Art „Schufa-Auskunft“. Unser Sozialunternehmen verifizieren durch Daten aus der Fabrik, von Arbeiter*innen selbst und Drittanbietern, dass die Löhne regelmäßig und in voller Höhe gezahlt werden.

Wir stellen also sicher, dass die Löhne fair sind und steigern sie mit dem globalen Trinkgeld, damit die Menschen ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen können.

tbd*: Habt ihr schon Feedback von den Arbeitnehmer*innen erhalten? Fühlen sie sich und ihre Arbeit mehr wertgeschätzt?

Wir sind extra nach Pakistan geflogen, um mit den Arbeiter*innen intensiv zu reden, was es mit ihnen macht, ein Trinkgeld zu bekommen. Und das Ergebnis war ganz klar: Es wird als direkte Wertschätzung empfunden.

„Entwicklungshilfe" hat sich früher darauf beschränkt, irgendwelche Dinge zu verschenken. Das Problem dabei ist, dass es oft Dinge waren, die vor Ort kaum gebraucht wurden. Und, dass es eine komische Dynamik von Abhängigkeit mit sich bringt. Warum mich die Idee des globalen Trinkgelds bis heute fasziniert, ist dass es beide Probleme umgeht: Die Arbeiter*innen können das Geld auf lokaler Ebene so investieren, dass es die bestehenden Bedürfnisse am besten erfüllt. Und es ist keine bloße Spende, keine Almosen. Sondern es kommt direkt als Wertschätzung für die getane Arbeit an. Das ist Empowerment auf lokaler Ebene und für mich so wie globale Zusammenarbeit sein sollte.

tbd*: Wie sehen eure Pläne für die Zukunft aus?

tip me wird der Hippie-Bruder von PayPal. Wir ermöglichen, dass es der neue Standard wird, zu wissen, wo Deine Produkte herkommen und wer sie gemacht hat. Online ein paar Schuhe zu bestellen, soll ich anfühlen, wie zum Bauernmarkt um die Ecke zu gehen. Unser Ziel ist es, die grundsätzliche Wertschätzung unserer alltäglichen Produkte und der Arbeit dahinter zu verändern.