Perspektive #7: Dr. Joana Breidenbach ist Mitgründerin von betterplace.org und Gründerin des betterplace lab. Sie schreibt Bücher über die kulturellen Folgen der Globalisierung, Migration und Tourismus. Und ihr liegt Wellbeing am Herzen.
[tweet:Wer das System verändern will, muss an sich selbst arbeiten]
Noch nie ging es der Menschheit so gut wie heute. Während unsere Vorfahren ihre Hauptenergie darauf verwenden mussten Hunger, Krankheit und Krieg zu besiegen, sterben heute dreimal mehr Menschen an Fettleibigkeit als an Unterernährung. Unsere Lebenserwartung hat sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verlängert. Und entgegen unserer subjektiven Wahrnehmung in einem krisenhaften Zeitalter des Terrorismus zu leben, begehen heute weitaus mehr Menschen Selbstmord, als das sie menschlicher Gewalt zum Opfer fallen.
Es ist eine Binse, das mit jedem neuen Zeitalter und jeder neuen Entwicklungsstufe jedoch nicht nur neue Chancen, sondern auch neue Herausforderungen einhergehen. Zu unseren dringendsten zeitgenössischen Problemen zählen Klimawandel, gesellschaftliche Inklusion und Geschlechtergerechtigkeit. Die Digitalisierung geht zudem mit einem exponentiell schnellen Wandel einher, der verstanden und gesteuert werden muss.
Komplexe Herausforderungen können nicht von Einzelnen bewältigt werden
Diese Herausforderungen haben eines gemeinsam: sie können nicht von einzelnen Akteuren, seien es Staaten, Unternehmen oder zivilgesellschaftlichen Akteuren bewältigt werden. Statt dessen erfordern sie die Fähigkeit zu kooperieren; Bündnisse einzugehen und Netzwerke aufzubauen. Nur durch Diversität und Kooperationen können wir für unsere komplexe Welt adequate Lösungen erarbeite. Denn unterschiedliche Akteure bringen unterschiedliche Perspektiven an einen Tisch und können auf deren Basis co-kreativ Neues entwickeln und so das System nachhaltig verändern.
Sozialunternehmer sind von diesem Dilemma besonders betroffen: mit viel Einsatz und Kompetenz versuchen sie wichtige gesellschaftliche Probleme zu lösen. Doch um einen Systemwandel wirklich effektiv zu gestalten, so das Fazit nach jahrzehntelangem Sozialunternehmertum, müssten sie weit über ihre individuellen Organisationen hinausgehen. Sie müssen Netzwerke bilden und Bewegungen starten, die Politiken verändern.
Gestresste Sozialunternehmer
Das dies bislang nur in wenigen Fällen geschieht, hat auch mit den Sozialunternehmern an sich und ihrer Lebenssituation zu tun. Eine Studie im Auftrag von Ashoka ergab, dass Changemaker eine überproportional schlechte Lebensqualität haben. Viele kämpfen mit Depressionen, Burnout und chronischen Krankheiten, hohen Scheidungsraten und großem Leistungs- und Finanzdruck. Bei genauerer Betrachtung ist dies nicht sonderlich verwunderlich: viele Sozialunternehmer haben früh im Leben Traumatisierungen erfahren, die sie überhaupt erst für den gesellschaftlichen Notstand, gegen den sie mit ihren Organisationen entgegenarbeiten, sensibilisiert und motiviert haben. Diese Erfahrungen können – insbesondere in der Gründungsphase – einen positiven Antrieb darstellen. Mit der Zeit jedoch holen die persönlichen Schatten viele wieder ein und führen zu einem ungesunden Lebensstil, der durch die “normalen” Herausforderungen des sozialen Sektors – von großem Finanzierungsdruck bis zu hartnäckigen sozialen Missständen - noch verstärkt werden.
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Ein kanadischer Ashoka-Fellow, Aaron Pereira, erfuhr im Gespräch mit anderen Sozialunternehmern, das sehr viele vor dem gleichen Dilemma standen: sie kämpften um eine persönliche Balance und innere Zufriedenheit. Es fiel ihnen schwer mit ihrer eigenen Verletzbarkeit in Kontakt zu kommen. Sie unterhielten sich ausschließlich über ihre Arbeit. Für Familie und Freunde blieb kaum noch Zeit. Zur gleichen Zeit lernte er andere Sozialunternehmer kennen, die innere Arbeit gemacht hatten – z.B. indem sie über längere Zeiträume einen Coach oder Therapeuten aufgesucht hatten oder von einem spirituellen Lehrer lernten. Diese Gruppe schien gesünder zu leben, enge Beziehungen zu pflegen, und zugleich auch nachhaltigere und wirksamere Organisationen zu führen.
Aaron startete daraufhin ein Projekt, welches die Arbeit im ganzen Sektor maßgeblich verändern könnte: das Wellbeing Project.
Das Wellbeing Projekt
Im Rahmen des Wellbeing Projekts durchlaufen insgesamt 60 Sozialunternehmer über einen Zeitraum von 18 Monaten ein maßgeschneidertes Programm. Dieses besteht zum einen aus drei einwöchigen Gruppen-Retreats, sowie einer individuell abgestimmten Begleitung durch einen Coach, Therapeuten o.ä. in der restlichen Zeit. In der Gruppe tauschen sie sich unter Anleitung erfahrener Facilitator über ihre Situation aus. Sie gewinnen Distanz zu ihrem Alltag, lernen sich selbst besser kennen, trauen sich bislang unausgesprochene Themen miteinander zu teilen.
Soweit die Ergebnisse vorliegen durchlaufen die Teilnehmer einen tiefen Transformationsprozess. Über viele Jahre sind sie gewohnt sich hauptsächlich als Vertreter ihrer Organisationen zu sehen. Jetzt können sie sich als Individuen zeigen, mit alle Stärken und Schwächen und der dazugehörigen Verwundbarkeit. Viele stellen sich herausfordernde Fragen: “Wer bin ich ohne meine Leidenschaft? Ohne meine Wut? Ohne meine Organisation?”. Mit der Zeit verändern einige ihre Rolle in der Organisation: manche scheiden (mittelfristig) aus, regeln ihre Nachfolge oder strukturieren um. Zudem zeigen die Teilnehmer ein viel größeres Interesse mit anderen zusammen zu arbeiten.
Interessant finde ich auch, dass sich das Verständnis der Sozialunternehmer, was Wellbeing eigentlich bedeutet, im Zuge des Programms stark verändert. Zu Beginn sagten die Teilnehmer, dass sie eine bessere Life-Work Balance anstreben wollten; mehr Zeit für Familie, Freunde und Hobbys aufbringen wollten. Später verstehen sie unter Wellbeing etwas sehr viel umfassenderes: nämlich mit sich selbst viel besser im Kontakt sein, sich und die eigenen Bedürfnisse mehr respektieren und vor allem auch als “ganzer Mensch” im Unternehmen und im Leben aufzutauchen. D.h. sie realisieren, wie vielschichtig und multidimensional sie sind und das sie bislang nur mit einem bestimmten “professionellen” Teil ihrer Persönlichkeit in der Öffentlichkeit präsent waren. Sie realisieren, wieviel Kraft es kostet, wichtige Aspekte des Selbst kontinuierlich in Schach zu halten. Nun trauen sie sich mehr von sich zu zeigen, sich ungeschminkter mit Mitarbeitern, Partnern und Geldgebern auszutauschen.
Ein deutscher Teilnehmer, ein erfahrener Sozialunternehmer, beschrieb mir, dass er während der Retreats erfahren hätte, dass es “ein zweites Zimmer” in seinem Leben gibt, das er bislang nicht bewußt wahrgenommen hatte. Ein tiefes, vielschichtiges, inneres Erfahren, welches ihm plötzlich zugänglich worden war und welches er heute in sein Leben soweit wie möglich integriert.
Dieses hier geschilderte so-genannte Inner Development Program, ist der zentrale, sehr erfahrungsbasierte Bestandteil des Wellbeing Projekts. Die zweite Säule besteht aus einer intensiven Evaluation und Forschungsbegleitung, die darauf abzielt herauszufinden, inwiefern innerer und effektiver äußerer Wandel wirklich zusammenhängen.
Das dritte Element heißt Learning and Convening und trägt die Erfahrungen des Wellbeing Projekts zeitnah in eine Gruppe von 50 Vertretern einflußreicher non-profit Institutionen aus der ganzen Welt. Ich bin für betterplace Teil dieses Zirkels und nehme an vierteljährlichen Zoom-Konferenzen, sowie drei Treffen in “meatspace” teil. In unserem Circle erforschen wir Möglichkeiten, die Erkenntnisse des Wellbeing Projekts in unseren jeweiligen Netzwerken umsetzen zu können, um eine neue Infrastruktur (und auch ein neues Mindset) im sozialen Sektor zu verankern. Die vierte und letzte Säule wiederum ist das Storytelling. Hier geht es darum die Erfahrungen der Teilnehmer in den unterschiedlichsten Formaten zu verbreiten um zu dem gleichen persönlichen und systemischen Wandel beizutragen.
Das Wellbeing Projekt trifft einen wichtigen Nerv. Plötzlich erscheint es möglich, über Themen zu sprechen, die vorher tabu waren. In diesen Diskussionen entsteht schnell eine große Intimität, die viele Teilnehmer überrascht und bewegt. Es steht damit nicht allein. Auch andere non-profit Experten, darunter Beth Kanter mit ihrem neuen Buch The Happy, Healthy Non-Profit, widmen sich der inneren Dimension des sozialen Wandels.
In dem Folgeartikel werde ich diesen Zusammenhang zwischen innerem und äußerem Wandel näher beleuchten.
Über die Autorin
Joana Breidenbach ist promovierte Kulturanthropologin und Autorin zahlreicher Bücher zu den kulturellen Folgen der Globalisierung, Migration und Tourismus. Etwa: Tanz der Kulturen (Rowohlt 2000), Maxikulti (Campus 2008) und Seeing Culture Everywhere (Washington Press 2009). Joana Breidenbach ist Mitgründerin von betterplace.org und Gründerin des betterplace lab.
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tbd* ist ein digitales Zuhause wo Menschen, wie du Best-Practices teilen und von anderen lernen können, die ebenfalls mit Weltverbessern Karriere machen.
Zum Launch haben wir daher Top DenkerInnen und MacherInnen unter den WeltverbessererInnen - also die Menschen, die uns jeden Tag aufs Neue inspirieren und motivieren - gebeten, einen Artikel für uns zu schreiben.
Wir stellen vor die Serie: Perspektiven. Wir haben diesen 10 sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten aus diversen Branchen und Sektoren freie Hand gegeben. Sie sollten darüber schreiben, was sie gerade - im Jahr 2017 in Deutschland - persönlich oder gesellschaftlich bewegt. Was zurück kam hat uns schwer beeindruckt und berührt. Danke dafür!