ursprünglich erschienen: 15.03.2016
Fast jeder hat es einmal erlebt. Eine neuer Ort, ein neuer Anfang. Man fühlt sich allein und sucht Anschluss. Kein Wunder, schließlich sind wir nicht dafür gemacht ohne soziale Beziehungen zu existieren. Ohne Gemeinschaft und Beziehungen geht es bei uns Menschen nicht. Diese lebenswichtigen Verbindungen zu anderen können durch Verwandtschaft (Familie), Freundschaft oder räumliche Nähe entstehen. Eine Gemeinschaft, die sich durch räumliche Nähe entwickelt, nennen wir Nachbarschaft. Sie gehört neben Familie und Freunden zur traditionellsten und ursprünglichsten Form der Gemeinschaft.
Nachbarschaft kann definiert werden als „eine soziale Gruppe, deren Mitglieder primär wegen der Gemeinsamkeit des Wohnortes miteinander interagieren“. (Hamm, 1973, 18)
Nun bedeutet räumliche Nähe allein noch nicht, dass eine Beziehung entsteht. Es sind weitere soziale Faktoren, wie zum Beispiel gemeinsame Interessen, ergänzende Fähigkeiten, ein ähnlicher Lebensstil oder eine ähnliche aktuelle Lebensphase (junge Familie, Student, Rentner) notwendig.
Vor der Industrialisierung im 18. Jahrhundert war der Beruf der entscheidende soziale Faktor für eine nachbarschaftliche Gemeinschaft. Gleiche Berufe lebten in gleichen Umgebungen. Durch die Industrialisierung, Urbanisierung und Mobilität der Menschen beziehen sich Gemeinsamkeiten mit den Nachbarn heute jedoch vornehmlich auf das außer-berufliche Leben.
Hinzu kommt, dass Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile heute die sozialen Gemeinsamkeiten unter den Nachbarn weiter verringern. Damit sinken natürlich auch die Chancen Gleichgesinnte innerhalb einer Nachbarschaft zu finden, mit denen man in Austausch treten möchte. In der Literatur liest man dann ganz dramatisch von einer „Erosion von Nachbarschaft“. Und es geht so weit, dass Nachbarschaft mittlerweile nur noch räumlich definiert wird. Soziale oder ökonomische Aspekte werden dabei völlig außer Acht gelassen:
„Quite simply, a neighbourhood is a geographically circumscribed, built environment that people use practically and symbolically.“ (Blokland, 2003, 213)
Es kann einem Angst und Bange werden um die Bedeutung von Nachbarschaft, wenn man sich so durch das Internet klickt. In einem Essay von Walter Siebel heißt es nachbarliche Hilfe und Unterstützung sei heutzutage nicht mehr als Nothilfe. Man tut dies nicht aus Nächstenliebe, sondern nur weil man keine andere Wahl hat und Freunde oder Familie nicht erreichbar sind. Nachbarn als Lückenbüßer. Bloß keine Verbindlichkeiten.
Ja, vielleicht auch. Aber eben nicht nur. Schaut man jedoch hin und lässt auch einfach mal einzelne Fälle wirken, kann man sehen, dass wir uns aktuell in einer nachbarschaftlich sehr spannenden und hoffnungsvollen Zeit befinden.
Während einerseits alles grenzenlos erscheint – Freund und Familie leben über den gesamten Globus verstreut, für Studium oder Job Beruf zieht man um – entwickelt sich andererseits derzeit eine neue Sehnsucht nach traditionellen Gemeinschaften. Wir suchen „räumlich nahe Beziehungen und verlässlichen Austausch“, erklärt Julia Hartmann von der Universität Vechta dem Hamburger Abendblatt. In Frankfurt bestehen beispielsweise ca. 50% der Haushalte aus Singles. Familie als soziales Netz fällt damit oftmals weg. Die Bedeutung der Nachbarschaft wächst.
Doch neben aller Sehnsucht nach Gemeinschaft, ist Nachbarschaft nun mal einfach auch verdammt praktisch – und nachhaltig. Viele Gegenstände, die wir besitzen, kommen viel zu selten zum Einsatz. Erfahrungen mit Ärzten, Restaurants, Physiotherapeuten oder anderen Dienstleistungen aus der Umgebung können geteilt werden. Ideen zur Verschönerung der Nachbarschaft werden in einer Art Schwarmintelligenz entwickelt. Viele sind eben besser als einer und gemeinsam ist man weniger allein.
Was kann Nachbarschaft heute also alles leisten:
- Sie kann uns eine Unterstützung und Hilfe sein: Einkäufe für ältere Menschen, anpacken bei einem Umzug, ein dringend benötigtes Werkzeug finden.
- Kontakt, Begegnung und Austausch unter Gleichgesinnten: Hundefreunde, Sportbegeisterte, Alleinerziehende
- Integration und vertikale Vernetzung über alle Ebenen hinweg: Jung und Alt können wieder voneinander lernen, Menschen mit Behinderung Hilfe und Unterstützung finden und Zugezogene (ob von fern oder nah) sich schneller Zuhause fühlen.
- Bürgerschaftliches Engagement und Beteiligung: Gemeinsame Ideen entwickeln und vorantreiben, statt auf das Handeln von Staat und Kommunen zu warten. Jeder Nachbar kann mit wenig Zeit und Aufwand etwas bewegen.
Lasst uns also mit offenen Augen durch unser Haus und unsere Straße gehen, grüßen, mal mit anpacken, ein Paket entgegen nehmen, tatsächlich einfach mal einem Nachbarschaftsverein einen Besuch abstatten oder eine Nachbarschaftsplattform im Internet ausprobieren.
Auf welchem Weg auch immer – vielleicht werden für manche von uns zufällige Nachbarn so sogar zu Freunden oder einer Art Ersatzfamilie, die das eigene Leben reicher und glücklicher macht.
Probieren wir es aus!
Über die Autorin
Ina ist Mitgründerin der Nachbarschaftsplattform nebenan.de und verantwortlich für Marketing & Kommunikation.
Ihren Enthusiasmus für Marken und Kommunikation entdeckt sie in einer der führenden deutschen Kreativagenturen. Sie war dort zunächst in der Beratung und später in der strategischen Planung sowie anschließend als selbständige Beraterin tätig. Ina blickt zudem auf viele Jahre Erfahrung in der tiefenpsychologischen Marktforschung.
In ihre erste Gründung ist Ina bereits im Jahr 2003 involviert, als sie gemeinsam mit Claudia Kotter und ihren Freunden die Organisation Junge Helden und führt diese nach dem Tod der Initiatorin Claudia Kotter 2011 weiter. Heute ist der bereits mehrfach ausgezeichnete Verein einer der wichtigsten Ansprechpartner für die deutsche Bevölkerung, Krankenkassen, Politik und Bildungseinrichtungen, wenn es um unkonventionelle und moderne Aufklärungsarbeit zum Thema Organspende geht.