ursprünglich erschienen: 01.09.2016
"Ich bin überzeugt, dass jeder tief in seinem Innern weiß, was gut ist und uns gut täte."
Mit 30 Jahren blickte Anaïs Sägesser auf eine eindrückliche Karriere zurück: Wirtschaftsstudium mit Doktortitel an der HSG, eine eigene Beratungsfirma und dann ein super Job in einem Weltkonzern. Doch es gab ein Problem: Sie hatte das Gefühl, in einem goldenen Käfig recht unwichtige Dinge zu tun. Grund genug für die heute 37-Jährige, die Weichen neu zu stellen und eine Schule zu gründen.
Dieses Interview stammt ursprünglich von Beruf+Berufung.
Anaïs, Du hast an der Hochschule St. Gallen einen Doktortitel erworben und später als Beraterin und Managerin Karriere gemacht. Warum bist Du ausgestiegen?
Ich habe mich schon sehr früh von der Sinnfrage leiten lassen. So nahm ich ein Wirtschaftsstudium an der HSG in Angriff, weil ich dachte, es könne nicht schaden, die Instrumente der Mächtigen zu beherrschen, wenn man etwas verändern will auf dieser Welt. Ich konnte dann allerdings wenig mit den Denkansätzen anfangen, die uns damals vermittelt wurden. So schloß ich das Studium in der Minimalzeit von vier Jahren ab und hängte zwei Jahre Religions- und Islamwissenschaften an. Gleichzeitig nahm ich die Dissertation in Angriff, in der ich der Frage nachging, wie sich Kultur auf die Übernahme von Informationstechnologie in der Arabischen Welt auswirkt. Das Thema war damals sehr aktuell und für mich hoch interessant, weil es ein Brennpunkt meiner Studienschwerpunkte Ökonomie, Informationstechnologie und Islamwissenschaften war. Während der Dissertation stieg ich auch als Unternehmensberaterin in die Berufswelt ein.
Warum hast danach Karriere gemacht, ohne es darauf angelegt zu haben?
Als Angestellte in der Unternehmensberatung konnte ich zwar analytisch arbeiten, aber inhaltlich fand ich das wenig befriedigend. So machte ich mich nach Abschluss der Dissertation mit meiner Beratungsfirma selbständig. Ein halbes Jahr später erhielt ich ein Stellenangebot von meiner Kundin in der Rückversicherungsbranche direkt auf Stufe Vice President, mit noch nicht einmal 30 Jahren. Die konzeptionelle Arbeit dort fiel mir leicht und es machte mir Spaß, mit so vielen hochintelligenten Menschen zusammenzuarbeiten. Der weitere Weg war vorgezeichnet, inklusive Nachwuchstalente-Programm, Führungsaufgaben, stetigem Lohnzuwachs. Nach knapp zwei Jahren hatte ich aber genug. Immer öfter hatte ich das Gefühl, meine Zeit nicht tatsächlich sinnvoll einzusetzen und nichts zu tun, was von direkter gesellschaftlicher Relevanz wäre. Ich sagte mir: Wenn du schon das Privileg hast, in einem so wunderbaren Umfeld geboren und ausgebildet worden zu sein, dann solltest du alles daran setzen, davon etwas zurückzugeben.
Das war in der Unternehmensberatung oder im Rückversicherungsgeschäft nicht möglich?
Für mich persönlich nicht. Dort wo ich mich bewegte, ging es ausschliesslich darum, die Performance eines bestimmten Unternehmensbereiches zu verbessern. Ob damit auch die Lebensqualität vieler Menschen verbessert wurde, war nie Thema. Meine berufliche Erfahrung stand somit losgelöst von den dringlichen Problemen wie beispielsweise dem Klimawandel. Deshalb kündigte ich nach zwei Jahren. Ich suchte einen Weg, mich in den Dienst der Menschheit zu stellen.
Du hattest keinen Plan?
Nein. Ich gab mir einfach zwei Jahre Zeit und thematisch die Vorgabe «Klimawandel». Als Erstes reduzierte ich meine Lebenskosten drastisch. Ich kündigte die Wohnung, wohnte abwechselnd bei Freunden und Familie, hörte auf mit Kleidershopping und stellte meine Ernährung auf vegetarisch um. Das half mir zwar nicht bei der Stellensuche, aber reduzierte meine Abhängigkeit und war Teil eines Selbstexperimentes: Was brauche ich wirklich? Nach den ersten Stellenabsagen begann ich, mich intensiv in die Klima-Thematik einzuarbeiten, engagierte mich in Freiwilligen-Programmen, belegte Vorlesungen in Umweltwissenschaften. Es dauerte fast ein Jahr, bis ich die erste bezahlte Stelle fand. Es ist eine gute Erfahrung, in einen neuen Bereich einzutauchen und zu spüren, dass da niemand auf dich gewartet hat. Zwischendurch machte sich auch Angst bemerkbar, aber wenn man die Angst begrüßt und lernt, sich nicht von ihr lähmen zu lassen, ist das eine wertvolle Erfahrung.
Du stiegst dann als Business Coach beim Schweizer Ableger des internationalen Netzwerks Climate-KIC ein, das Innovationen und Unternehmertum zur Verlangsamung des Klimawandels fördert. Fünf Jahre später – zwei Jahre, nachdem Du die Leitung des Schweizer Programms übernommen hast – zogst Du weiter. Warum hältst Du es nirgends länger aus?
Wir konnten da einiges bewegen und Climate-KIC ist eine tolle Initiative mit vielen grossartigen Menschen und Resultaten. Mich beschäftigte aber weiterhin die Frage, wo ich persönlich am meisten bewegen kann. Ich kam zum Schluss, dass mehr technologische Innovation keine befriedigende Antwort auf die großen Herausforderungen ist. Es ist ein Trugschluss zu glauben, die Technologie löse alle Probleme. In der Schweiz haben wir beispielsweise im Bereich der Gebäudetechnologie riesige Fortschritte gemacht, was den Energieverbrauch pro Quadratmeter massiv gesenkt hat. Aber was bringt das, wenn wir immer mehr Quadratmeter Wohnfläche für uns beanspruchen? Oder was bringen effizientere Motoren, wenn unsere Autos immer schwerer werden? Und wie relevant ist das alles, wenn viele Menschen Wochenendtrips nach Lissabon, Prag oder London unternehmen? Die Grundfrage ist nicht, was wir technisch verbessern können, sondern wohin wir als Gesellschaft wollen, was unsere Werte, Ziele und Glaubenssysteme sind, nach denen wir uns ausrichten.
Offenbar wollen wir konsumieren und unseren Wohlstand maximieren.
Dafür gibt es eine Nachfrage, die reichlich bedient wird, das stimmt. Mein Menschenbild ist aber ein anderes. Ich bin überzeugt, dass jeder tief in seinem Innern weiß, was gut ist und uns gut täte. Nur sind viele Menschen nicht in Verbindung mit sich selber; sie verausgaben sich bei der Arbeit und lenken sich mit Konsum von den wesentlichen Fragen ab. Oder sie kapitulieren früh, weil sie das Gefühl haben, es spiele keine Rolle, wie sie sich verhalten, sie könnten ohnehin nichts bewegen. Ich glaube, dass jeder Mensch wichtig ist und etwas verändern kann, wenn er mit sich selbst, anderen und der Natur in Verbindung steht, gute Netzwerke bildet und sich die Instrumente aneignet, um unternehmerisch etwas bewegen zu können.
Was heißt das konkret?
Ich bin überzeugt, dass es andere Ausbildungsformen braucht. An vielen etablierten Schulen wird nach wie vor in erster Linie Wissen vermittelt. Expertenwissen ist heute für alle zugänglich in teilweise sehr gut aufbereiteter Form. Schulen sollten deshalb das vermitteln, was wir nicht googeln können – jedenfalls im Weiterbildungsbereich.
Und deshalb hast Du kürzlich eine eigene Schule gegründet?
Nicht eine Schule, sondern eine unSchool namens Stride, die erste unSchool for Entrepreneurial Leadership. Wir starten im Oktober mit 1.5 tägigen Stride Labs und im März mit einem berufsbegleitenden Einjahresprogramm, das ebenso auf die persönliche Weiterentwicklung der Absolventen abzielt wie auf die Befähigung zum wirkungsorientierten Unternehmertum. Mindestens so wichtig wie das Lernen wird das Umsetzen sein. So sollen die Absolventen nach etwa einem halben Jahr gemeinsam Unternehmen gründen und am Markt erproben, was ihre Ideen taugen.
Warum nennst Du das Ganze eine unSchool?
Weil die Lernenden selbst ihr eigenes Lernen vorantreiben und über weite Strecken definieren, was für sie wichtig ist. Wir von Stride begleiten sie dabei durch einen klaren Prozess. Wichtig ist uns zudem, dass auch die scheinbar unverrückbaren Dinge hinterfragt werden. Gesetze beispielsweise sind ja nicht in Stein gemeisselt, sondern sie repräsentieren die früheren Wertevorstellungen einer Gesellschaft. Wer neue Wege gehen will, tut gut daran, mit kindlicher Neugierde noch einmal alles in Frage zu stellen, sich nicht damit abzufinden, dass die Dinge nun einmal sind, wie sie sind. Mit meinen Mitgründern Niels Rot und Björn Müller will ich die Lernenden auf ihrem Weg begleiten und ihre persönliche Transformation unterstützen.
Wen wollt Ihr mit dem Lehrgang ansprechen?
Erfahrene, erfolgreiche Berufsleute zwischen 30 und 45, die sich vermehrt die Frage stellen, ob das jetzt alles war oder wie sie ihrem Leben mehr Sinn und Tiefgang geben könnten. Aber auch Menschen im letzten Drittel ihrer Berufslaufbahn, die nochmals was Neues anpeilen möchten oder müssen und keine Lust haben, die restlichen Berufsjahre als Berater zu arbeiten. Es ist so schade, wenn man aus Angst oder Ratlosigkeit unter seinen Möglichkeiten bleibt. Ich selber bin heute viel glücklicher als auf dem Einkommenszenit vor sechs Jahren. Ich bin nicht mehr nur intellektuell leistungsfähig, sondern bin durch Praktizieren von Yoga, bewusstes Atmen und unternehmerische Erfahrung in Verbindung mit mir und meiner Umwelt gekommen. Und ich habe ein gutes Gefühl dafür gewonnen, was wirklich wichtig ist: nicht Kontostand oder Status, sondern dass ich durch meinen selbst gewählten Weg etwas Sinnvolles tun kann.
Dieses Interview stammt ursprünglich von Beruf+Berufung.