Soziale Innovationen sind spannender als Netflix

Nur gemeinsam schaffen wir es Ideen zu entwickeln, die Systeme nachhaltig verändern.

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von Matthias Scheffelmeier, October 19, 2017
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Perspektive #6: Matthias Scheffelmeier ist Mitglied des Führungsteams von Ashoka Deutschland und Co-Direktor von Ashoka Europa.

Ich bekenne mich schuldig: Ich bin ein serial ‚binge watcher’. House of Cards, Sense8, Stranger Things, Girls, The Wire, Westworld und The Get Down. Ich schaue sie alle und noch mehr. Und dass ‚How to make it in America’ nach zwei Staffeln abgesetzt wurde ... es schmerzt noch heute. Ich kann wohl einfach schlecht mit ‚Cliffhangern’ umgehen. Dann wenn am spannendsten Punkt einer Geschichte Schluss ist und erst in der nächsten Folge weitererzählt wird. Ich schaue dann mit müden Augen bis 2 Uhr nachts weiter.

Um zu veranschaulichen was ich meine, versuche ich es direkt einmal selbst: 

Letzens musste ich wie so oft in letzter Minute einen Zug erwischen. Ich bügelte also in großer Eile ein Hemd, packte meine Tasche, suchte verzweifelt meine Schlüssel, tröstete meinen kleinen Sohn, der das Schauspiel ganze traurig mit “Papa, Arbeit?” kommentierte, rannte zur Straßenbahn auf der Torstraße in Berlin, kaufte mir auf dem Smartphone noch kurz ein Ticket, hetzte in den Hauptbahnhof, stolperte über einen Berg von Koffern, riss ein Loch in mein Jackett und plötzlich ............................... tja. Am Ende dann mehr dazu.

Ideen, die zum Paradigmawechsel führen

Aber erstmal ein paar Jahrzehnte zurück: Wusstest du, dass wenn du vor 1960 ein Auto gefahren hättest, wäre dein einziger Schutz vor Unfall-Folgen ein sogenannter Beckengurt. So wie der, den man aus Flugzeugen kennt. Gesetzlich verpflichtend war er nicht und wirklich Lust ihn anzulegen hatte auch keiner. Und selbst die Leute, die es freiwillig taten rutschten bei Aufprallen reihenweise durch oder schlugen sich die Köpfe an. Technisch, kulturell und gesetzlich – ein rundum schlechtes System. Irgendwann entwickelte ein smarter Ingenieur bei Volvo dann den uns heute bekannten Dreipunkte-Gurt. Die Gefahr tödlicher Verletzungen reduzierte sich daraufhin um 50%, die von Kopfverletzungen sogar um 75%. Die Erfindung wurde für das menschliche Wohl als so essential gesehen, dass er bald darauf fast weltweit Pflicht in Neuwagen wurde. In Deutschland 1974. Heute ist er nicht mehr wegzudenken. Der Gurt ist Standard geworden. Und eine Welt ohne Gurt können sich viele kaum mehr vorstellen. Fast 100% aller Deutscher verwenden ihn. Und er rettet jährlich Millionen Menschenleben.

Ideen dieser Art, selbst wenn diese auch nicht aus dem Bereich des Sozialunternehmertums kommt, faszinieren mich: Ideen, denen ein Umdenken, ein Perspektivwechsel, zu Grunde liegt. Und Ideen, die dank smarter Verbreitung, über die Zeit zu einem Paradigmenwechsel und langfristiger systemischer Veränderung führen. Die Einführung frühkindlicher Bildung und Eröffnung der ersten Kindergärten vor 100 Jahren durch Maria Montessori oder die Begründung der Profession der Krankenpflege durch Florence Nightingale sind historische Beispiele für solche Paradigmenwechsel – oder können sie sich ein Krankenhaus vorstellen in dem es nur Ärzte aber keine Pfleger gibt? Vor Eröffnung der ersten ‚nursing school’ durch Nightingale 1860 in London war das so. Und fast so viele Patienten verstarben an fehlender Pflege nach Operationen als durch diese. Oder denken sie an Jimmy Wales, der mit Wikipedia unsere Idee von Wissenserstellung und Verbreitung komplett auf den Kopf stellte. MPesa, mit dem Millionen Menschen in Ostafrika, die bisher kein Bankkonto hatten, Geldgeschäfte über das Mobiltelefon erledigen können. Oder die Stromrebellin Ursula Sladeck, die 1994 das Stromnetz ihrer Heimatstadt übernahm und in die Hände der Bürger übergab … es gibt vieler solcher Beispiele für systemische Veränderung. 

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Spannender als Netflix

“System change” – ein fast furchteinflößender Monster-Begriff, der oft ideologisch geprägte Assoziationen großen politischen Umwälzungen weckt. Oder bei dem man immer sofort an das Bildungs- oder Wirtschaftssystem als Ganzes denkt. Mir geht es ehrlich gesagt aber gar nicht zwingend immer nur um die ganz großen Räder.

Simon Berry zum Beispiel, der Gründer von ColaLife, transportiert in den leeren Zwischenräumen von CocaCola Kisten Medizin in entlegene Orte. Denn wie er sagt „Coca-Cola seems to get everywhere, yet life-saving medicines don’t“. Das Fairphone von Bas van Abel verwendet möglichst fair produzierte und nachhaltige Materialien und verändert dadurch die gesamte Produktionskette. Gregor Hackmack macht via abgeordnetenwatch Politik transparent und unsere Demokratie damit stärker. Silke Mader entwickelt mit der European Foundation for the Care of Newborn Infants neue Standards für Versorgung und Nachsorge von Frühgeborenen. Thorkil Sonne überzeugt Technologie-Unternehmen davon Autisten als Experten für Aufgaben einzustellen, die hohe Konzentration erfordern. Die Liste könnte fast endlos fortgesetzt werden. 

Systemische Veränderung beginnt bei den vermeintlich kleinen Schräubchen. Dann wenn bestehendes Potential plötzlich voll ausgeschöpft wird, sich Wertschöpfungsketten verbessern, neue Standards entstehen, vermeintliche Schwächen zu Stärken werden, sich Einstellungen verändern und so weiter.

Ich habe allerdings ein wenig das Gefühl, dass uns allen der Fokus, das nötige mindset, das Wissen und die Instrumente fehlen, die uns allen erlauben würden gemeinsam systemische Veränderung zu realisieren. Wie funktioniert nachhaltiger Wandel eigentlich genau? Was sind erfolgreiche Wege systemische Veränderung zu erreichen? Haben wir schon die Reife unser Ego hintenanzustellen, um in smarten Allianzen gemeinsame Ziele zu erreichen. Denn klar ist, systemische Veränderung ist Teamsport. Einzelkämpfer gehen schnell unter in der Komplexität der Systeme hinter unseren sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Problemen. Und da bringt es oft schlicht auch nichts das Wachstum der eigenen Organisation zu forcieren, wenn es eigentlich die Ideen und Konzepte sind, die sich verbreiten sollten. 

Sind wir manchmal gar angetrieben von ganz anderen Motiven wie von Wirkung und Wandel? Von Status? KPIs und Kennzahlen? Reputation? Oder der Notwendigkeit ständig neue Projekte ins Leben zu rufen, um die Finanzierung unserer Organisationen zu sichern? Für “Ich möchte das System verändern” gibt es meines Wissens nach jedenfalls noch nicht viele Finanzierungsquellen. Haben wir den Mut Dinge anders wie bisher zu machen? Geht es uns auch mental gut genug, um die Kraft für system change aufzubringen oder stecken wir zu sehr im Hamsterrad von Erwartungen, Ambitionen und Abhängigkeiten?

Rund um diese Fragen macht sich Ashoka derzeit auf eine Entdeckungsreise, die uns sehr wahrscheinlich die nächsten Jahre beschäftigen wird … und ich will sie einladen mitzukommen. Denn eine Sache gibt es dann doch, die viel viel spannender als Netflix ist. Geniale soziale Innovationen!

Wandel erreichen wir nur gemeinsam

Eine letzte Sache noch:

… Der Geschichte vom Anfang, sie erinnern sich vielleicht:

Ich sprang also aus der Tram, rannte wie ein Verrückter vom Europaplatz aus in den Bahnhof, stolperte über den Kofferberg und plötzlich ... erkannte ich: Ich bin ganz schön bekloppt. Ich bin eigentlich ein wenig überarbeitet, jette wie ein Verrückter durch die Gegend, Deadlines im Rücken, Fundraising-Ziele im Kopf, Projekte ohne Ende und bin vielleicht ein wenig zu sehr getrieben davon was ich denke, dass andere von mir oder Ashoka erwarten. Dass dieses oder jenes Projekt nicht perfekt funktioniert. Dass wir vielleicht nicht ‘cutting edge’ genug sind. Dass hier und da etwas schiefgeht und so weiter und so weiter … puuuh! Kurz gesagt: Ich erkannte, dass ich mir mehr Sorgen um Oberflächlichkeit mache, als darum, was wir gemeinsam alles erreichen könnten. Und ich unbewusst davon ausgehe vieles selbst machen zu müssen, wobei doch so viele unserer Ziele genau dieselben sind. 

Ich glaube wir müssen damit Schluss machen – und zu einer neuen Ehrlichkeit und Ruhe finden. Keiner von uns kann alles, keiner von uns kann alles alleine – lasst uns die gemeinsamen Ziele nicht aus den Augen verlieren. [tweet:„Wandel beginnt bei uns selbst“. Ja, mag sein, aber ihn erreichen können wir nur gemeinsam.]

*(Dieser Text basiert zu Teilen auf einer Rede von Matthias Scheffelmeier auf der Ashoka Sozialunternehmer-Konferenz im Mai 2017 in Berlin)

Über den Autor

Matthias Scheffelmeier ist Mitglied des Führungsteams von Ashoka Deutschland und Co-Direktor von Ashoka Europa. Zuvor verantwortete er den Launch und Aufbau von Ashoka in der Türkei mit Sitz in Istanbul. 2012 gründete er unter dem Dach von Ashoka den “ChangemakerXchange”, eine Platform und globales Netzwerk für junge startup social entrepreneurs, welches mittlerweile über 300 UnternehmerInnen in 70 Ländern in Europa, Afrika, dem Nahen Osten und Asien vernetzt.

Im Rahmen einer strategischen Allianz vertrat Matthias in den Jahren 2012-2015 neben seiner Tätigkeit für Ashoka parallel die Aktivitäten der BMW Stiftung Herbert Quandt in der Türkei und Region. Als Repräsentant der Stiftung arbeitete er vor allem an einer engeren sektorenübergreifenden Vernetzung verschiedener Akteure aus Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft zur gemeinsamen Förderung sozialer Innovationen.

Als Keynote-speaker auf TEDx Events, an Universitäten und bei Großveranstaltungen tritt Matthias auch öffentlich für das Thema Social Entrepreneurship, verbesserte Förder- und Wachstumsbedingungen und wirksames gesellschaftliches Engagement ein.

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tbd* ist ein digitales Zuhause wo Menschen, wie du Best-Practices teilen und von anderen lernen können, die ebenfalls mit Weltverbessern Karriere machen.

Zum Launch haben wir daher Top DenkerInnen und MacherInnen unter den WeltverbessererInnen - also die Menschen, die uns jeden Tag aufs Neue inspirieren und motivieren - gebeten, einen Artikel für uns zu schreiben. 

Wir stellen vor die Serie: Perspektiven. Wir haben diesen 10 sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten aus diversen Branchen und Sektoren freie Hand gegeben. Sie sollten darüber schreiben, was sie gerade - im Jahr 2017 in Deutschland - persönlich oder gesellschaftlich bewegt. Was zurück kam hat uns schwer beeindruckt und berührt. Danke dafür!