Tränengas an unserer Grenze

Ein Kommentar von Caroline König, Campaignerin bei Oxfam, Mutter und Europäerin zur Situation an Europas Grenze.

Teilen
von Caroline König, April 1, 2020
EU Außengrenze

Dieser Artikel erschien zuerst hier auf oxfam.de

Heute möchte ich mit Ihnen teilen, was die Situation an der griechisch-türkischen Grenze mit mir macht. Was es mit mir macht, dass Kinder und ihre Eltern an der europäischen Grenze mit Tränengas beschossen werden.

Dass Kinder im größten Flüchtlingslager Europas von ihren Eltern schützend vor Lagerfeuer gehalten werden müssen, damit sie nicht erfrieren. Dass Kinder, über die in ihrem Zuhause der Krieg hereingebrochen ist, auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken. Und das alles in meinem Namen. In meinem Europa, das 2012 den Friedensnobelpreis für seinen Einsatz für die Menschenrechte verliehen bekommen hat.

Während die Europäische Kommission, statt die flüchtenden Menschen – von denen 30% Kinder sind – zu retten, reflexartig 700 Millionen Euro in noch abschreckendere Grenzen investiert und die Mauern noch höher zieht, kann ich nicht aufhören, mir vorzustellen, wie es mir ginge. Wie es sich für mich anfühlen würde, in den Augen meines Kindes die Angst zu sehen, bei dem Geräusch von Gewehrschüssen oder Bomben, die in unser Zuhause einschlagen. Die Vorstellung, zwischen schreienden, weinenden Menschen meine Oma oder meine Mutter zurückzulassen. Mein Kind nicht schützen zu können: vor Kälte, vor Hunger und vor dem traumatisierenden Horror einer Flucht. Mit meinem Kind schließlich vor den Grenzen Europas zu stranden und weder aufgenommen noch angehört zu werden – und vielleicht sogar mit Tränengas beschossen zu werden.

[recommended:13305]

Ich sitze ohnmächtig vor den Nachrichten von der griechisch-türkischen Grenze. Einerseits hört es sich weit weg an, andererseits geht es hier unmittelbar um „unsere Grenze“, die Grenze nach Europa, meiner Heimat. Als Campaignerin bei Oxfam bin ich von Natur aus kritisch und habe viele Verbesserungsideen, was die EU angeht, dennoch gibt es auch Dinge, die ich schätze und auf die ich vertraue. Ganz oben stehen da die Menschenrechte, wie sie unter anderem in der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 festgeschrieben sind. Für mich bedeuten sie die Sicherheit, dass – sollte ich mich jemals vor einem Gericht verteidigen müssen – mein Geschlecht, meine Hautfarbe, meine Religion oder meine Sexualität keine Rolle spielen, sondern der Sachverhalt zählt. Sie sind für mich der kleinste gemeinsame Nenner, das Recht, auf das sich jeder Mensch verlassen können sollte.

Ich bin dankbar, in einem Europa zu leben, in dem ich selbst mir dessen sicher sein kann, für mich, mein Kind, meine Eltern und Freunde und für jeden Menschen in Not. Die Menschenrechte sind für mich eine Kostbarkeit und der Fakt, dass ich hier geboren wurde, wo sie gelten, ein Geschenk. Aber dieser Schatz ist nichts wert und verliert seine Wirkung, wenn er nicht für alle gilt. In dem Moment, wo wir, das Europa der Menschenrechte, dieses Recht auch nur für einen einzigen Menschen aufheben, haben wir alles verloren, wofür wir stehen. Vor unseren Türen stehen nun diese Menschen in Not. Dort draußen vor und unmittelbar hinter unseren Grenzen sitzen frierend in Zelten die Kinder, die Brüder und Schwestern, die Eltern von jemandem, dessen größte Hoffnung das Europa der Menschenrechte ist. Die wenigen Helfer*innen, die noch vor Ort sind, werden bedroht, manche attackiert. Letzte Woche musste Ärzte ohne Grenzen seine Kinderklinik auf Lesbos, bei Moria, dem größten Flüchtlingscamp Europas, wegen Angriffen durch Rechtsradikale schließen. Oxfam unterstützt den Greek Council for Refugees, eine griechische Nichtregierungsorganisation, die für Geflüchtete auf Lesbos juristische Beratung leistet, damit diese ihre Rechte in Anspruch nehmen können – die ihnen die EU allzu oft verweigert. Wenn Familien fliehen, dann geschieht das aus Not. Und das Recht, zunächst einmal aufgenommen und angehört zu werden, muss für jeden Menschen gelten. Das gehört zu unserer europäischen Identität. Das ist, was uns ausmacht und was uns eint.

Und Menschen aufnehmen – dazu sind wir nicht nur verpflichtet, sondern auch imstande: Die Zahlen im fünften Jahr nach 2015 sprechen für sich: Laut Pro Asyl haben 85 Prozent aller Geflüchteten mittlerweile an Sprachkursen teilgenommen. Ihre Integration in den Arbeitsmarkt verläuft besser als oft angenommen. Fast jede*r zweite Geflüchtete in Deutschland ist erwerbstätig, die Hälfte von ihnen als Fachkraft. Jedes Semester immatrikulieren sich mehrere Tausend Geflüchtete an deutschen Hochschulen und Universitäten. Natürlich geht das nicht von selbst und es läuft auch bei Weitem nicht alles reibungslos, aber es läuft. Bis heute wurde weder das 2015 veranschlagte Budget zur Bewältigung der Flüchtlingskrise aufgebraucht noch wurde die von der Bundesregierung gebildete Flüchtlingsrücklage in Höhe von mittlerweile 35 Milliarden Euro genutzt. In den Kommunen stehen laut Pro Asyl viele Flüchtlingsunterkünfte leer, andere könnten kurzfristig reaktiviert werden.

Wir haben in den letzten fünf Jahren so viele Kompetenzen in Deutschland erlangt, Geld, Raum und engagierte Menschen sind auch vorhanden. Mit Schreckensmeldungen und bedrohlicher Sprache schüren manche Medien und Politiker*innen Angst, aber viele Kommunen halten dagegen, bewahren einen kühlen Kopf und sehen, was zählt: Menschenrechte achten und Menschenleben retten. In den nächsten Wochen und Monaten wird es sicherlich viel zu tun geben, um Menschen in Not aufzunehmen und zu helfen. Ich glaube fest daran, dass parallel zu der Suche nach einer europäischen Lösung erstmal die Familien aus den Elendslagern geholt werden müssen. Bis das endlich so weit ist, versuche ich, mich nicht von Angstmachern beeindrucken zu lassen, sondern mich auf konstruktive, mutige und engagierte Menschen in unserem Land zu verlassen – so wie die 140 Städte (!), die mittlerweile erklärt haben, Geflüchtete aufnehmen zu können und sich darauf vorbereiten. In ihrer Bereitschaft anzupacken und zu helfen finde ich die Werte wieder, die ich auf politischer und medialer Ebene in den letzten Wochen oft vermisst habe und für die ich einstehen möchte.

Übrigens: Falls Sie sich engagieren wollen, können Sie hier die Eil-Petition von Sven Giegold, Erik Marquardt (EU-Abgeordnete) und anderen unterzeichnen und die Bundesregierung und den Rat der EU zum Handeln auffordern oder hier über den Twitter-Account des EU-Abgeordneten Erik Marquardt auf dem Laufenden bleiben.