Header: Caleb Hernandez Belmonte via Unsplash
Verwendet Inhalte aus der Broschüre "Das hat System" von Odin Mühlenbein und Martina Zelt
Was heißt es eigentlich, als Sozialunternehmen erfolgreich zu sein? Bei gewinnorientierten Unternehmen ist die Sache klar: je mehr Wachstum und Gewinn, desto besser. Dieser Logik begegnen wir auch im Bereich Sozialunternehmertum. Stiftungen wollen, dass Sozialunternehmen mehr Menschen mit ihren Angeboten erreichen; Sozialinvestor:innen erwarten eine Rendite; und die Politik will wissen, wie viele neue Arbeitsplätze der Sektor schaffen wird. Diese Blickwinkel haben durchaus ihre Berechtigung. Wir wollen ja, dass alle Menschen mit psychischen Erkrankungen gut versorgt und alle Kinder mit Problemen in der Schule passend gefördert werden.
Gleichzeitig sollten wir uns fragen: Fokussieren wir uns dabei nicht zu sehr auf Symptome? Warum müssen psychische Krisen erst eskalieren, bevor man Hilfe bekommt? Warum haben so viele Kinder Probleme in der Schule? Warum ist die Rückfallquote bei Gewaltverbrechen so hoch? Die Antwort steckt in unseren sozialen Systemen. Das Gesundheitssystem ist auf Behandlungen statt auf Prävention fokussiert; das Schulsystem ist nicht darauf ausgerichtet, Schüler:innen individuell zu fördern; und der Strafvollzug radikalisiert viele Insassen noch weiter. Sozialunternehmen können dazu beitragen, diese Systeme zu verändern. Genau darin liegt ihr größter Wert für die Gesellschaft. Eine Studie von Ashoka und McKinsey zeigt, dass schon kleine Veränderungen in gesellschaftlichen Systemen hunderte Millionen Euro pro Jahr an Mehrwert generieren. Diese systemischen Veränderungen haben damit oft mehr Wirkung als selbst die erfolgreichsten Sozialunternehmen, die vielen Menschen ganz direkt helfen.
Wie genau sehen solche systemischen Veränderungen aus? Und wie bringen Sozialunternehmen diese Ziele voran? Systeme zu verändern braucht bestimmte Fähigkeiten und Werkzeuge. Es ist eine Einstellungssache, aber es ist auch ein Handwerk. Mit der Broschüre "Das hat System" geben wir einen Einblick in den Werkraum der Systemveränderer. Hier sind 3 der insgesamt 16 Beispiele:
Mit Ipso unterstützt Inge Missmahl Menschen in psychischen Krisensituationen. Inge möchte nicht einfach nur viele Menschen mit Ipso erreichen. Sie möchte im Gesundheitssystem für psychische Erkrankungen ein Stufenmodell einführen. Sie setzt dabei auf "Value-Based Counseling". Wirkstudien zeigen, dass man damit auch schwierige Situationen mit 3-5 Sitzungen stabilisieren kann. Niederschwellige Erstinterventionen ohne Diagnose sollen Teil der Regelversorung werden. Als erster Meilenstein soll eine App für Value-Based Counseling eine Zulassung als Digitale Gesundheitsanwendung vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte erhalten. Die App ist bereits entwickelt und als Medizinprodukt zertifiziert. Das Bewerbungsverfahren läuft. Als nächstes müssen Verträge mit den ersten Krankenkassen geschlossen werden, bevor das Stufenmodell schließlich auf weitere Interventionen ausgeweitet werden kann. Inges Werkzeug ist die Macht des Präzedenzfalls. Wenn es das Stufenmodell für Value-Based Counseling gibt, können andere Ansätze auf eine ähnliche Art etabliert werden. Als Entscheider:in bei einer Krankenkasse kannst Du helfen, indem Du mit Deiner Krankenkasse das Modell früh unterstützt. Wir alle können helfen, indem wir Menschen in unserem Umfeld dazu ermutigen, psychische Probleme ernst zu nehmen und sich Hilfe zu holen.
Mit Violence Prevention Network (VPN) hilft Judy Korn extremistischen Gewaltverbrecher:innen ihre Ideologien abzulegen und ihr Verhalten zu verändern. Sie will erreichen, dass ideologisch motivierte Straftäter:innen per Gesetz ein Recht auf Deradikalisierungsprogramme bekommen. Denn Eine Wirkstudie zeigt, dass die Rückfallquote dadurch deutlich sinkt. Judys Werkzeug ist die Zusammenarbeit mit Ministerien. 2016 hat die Bundesregierung Deradikalisierungsprogramme in ihre Strategie zur Extremismusbekämpfung aufgenommen. VPN wird darin erwähnt. Die staatliche Finanzierung steht bis 2024, muss danach aber noch in den Haushaltsplänen der Länder verankert werden. Bei den Qualitätsstandards ist es ähnlich. Die gibt es auf Bundesebene seit 2020 und müssen jetzt noch von den Ländern übernommen werden. VPN hat die Arbeit im Auftrag des BMFSFJ koordiniert. Ein Konzept für die einheitliche Evaluation wird gerade (unter anderem von VPN) erarbeitet. Als Mitarbeiter:in in einem Innenministerium kannst du helfen, indem Du diese Prozesse vorantreibst.
Mit Serlo stellt Simon Köhl will dafür sorgen, dass Lernmaterialien unter freien Lizenzen für alle Fächer und Klassenstufen im Netz zur Verfügung stehen. Schüler:innen könnten so leichter selbstbestimmt lernen und Lehrer:innen könnten viel Zeit sparen. Das Angebot auf serlo.org deckt bereits viele Unterrichtsinhalte ab. Die monatlich 1,5 Millionen Nutzer:innen zeigen außerdem, dass die Materialien in der Breite nachgefragt werden. Um die Idee von freien Lernmaterialien fest im Bildungssystem zu verankern, versucht Simon über die Bildungsministerien eine neue Regel und finanzielle Anreize einzuführen: 10% der tatsächlich in der Schule verwendeten Lernmaterialien sollen unter freien Lizenzen stehen. Simon hofft, dass dann auch noch weitere Organisationen im großen Stil freie Materialien erstellen. Die Quote könnte dann schrittweise angehoben werden. Serlos Werkzeug ist die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen. Die Organisation ist Teil der Initiative "Freie Bildung", die sich politisch für freie Lernmaterialien einsetzt. Als Mitarbeiter:in im Schulamt kannst Du helfen, indem Du Teile des Budgets für Lernmittel an den Einsatz freier Lizenzen koppelst. Wir alle können helfen, indem wir junge Menschen ermutigen, selbstbestimmt zu lernen.
Die Beispiele zeigen: Systemische Veränderungen sind nichts Abstraktes, das nur zufällig entsteht. Man kann die systemischen Hebel klar benennen. An den Meilensteinen kann man arbeiten. Und diese Arbeit kann man gezielt fördern.
Der Werkraum der Systemveränderer hat nicht nur Platz für Sozialunternehmer:innen. Als Mitarbeiter:in in einem Innenministerium oder bei einer Krankenkasse, als Lehrer:in oder einfach als Mensch – jeder kann mitmachen! Damit Sozialunternehmen systemisch erfolgreich sein können, sollten Stiftungen außerdem ihre Förderpraktiken überdenken und die Regierung die Rahmenbedingungen verbessern. In internationalen Studien haben wir gezeigt, wie das geht. Andere Länder sind da bereits weiter als wir. Es ist Zeit aufzuholen.
Im Werkraum ist auf jeden Fall noch Platz.
Dieser Artikel wurde geschrieben von Odin Mühlenbein von Ashoka Deutschland. Ashoka ist das weltweit größte Netzwerk von Sozialunternehmer:innen. Fragen oder Anmerkungen? Schick dem Autor eine E-Mail.