Ich bin ein Stress-Profi
Eigentlich weiß ich sehr genau, was mir gut tut. Ausreichend Schlaf, viel Bewegung, Zeit für Ruhe, für Freunde und gesundes Essen. Ja, ich biete sogar Coaching und Workshops an, in denen meine Klienten lernen, gelassen erfolgreich zu sein! Ich sollte also non-stop auf einer großen Wolke der Gelassenheit durchs Leben schweben. Stimmt aber nicht ganz, denn: Es gibt immer wieder Situationen, in denen ich all mein Wissen zu vergessen scheine.
Immer wenn sich das Leben nicht an meine Planung hält, sondern eigenmächtig ein paar kleinere oder größere Katastrophen produziert, bin ich ein absoluter Gelassenheits-Versager. Dann schlafe ich schlecht oder zu wenig, esse ungesund und zu viel, nehme mir keine Zeit für Bewegung und auch nicht für die anderen schönen Dinge im Leben. Ich ignoriere meine Energie-Ressourcen und setze meine Ziele unerreichbar hoch.
Sich selbst zu stressen, ist ganz einfach
Ich bin damit nicht alleine. Auch viele meiner Coaching-Klienten und Workshop-Teilnehmer sind ungeduldig mit dem Leben und mit sich selbst. Ohne zu wissen, was sie sich eigentlich wünschen, wollen sie, dass ihre Wünsche in Erfüllung gehen. Und klar, das stresst. Sie rennen von einem To-do zum nächsten, haben Termine hier und da. Was genau gerade wichtig ist, ist unklar.
Sorgst Du auch erfolgreich für Stress in Deinem Leben? Dann kennst du vermutlich diese „Erfolgsstrategien“ für Stress:
- Du vergleichst dich mit anderen.
- Du machst dir immer wieder bewusst, was sie besser können als du.
- Du gönnst dir unter keinen Umständen eine Pause.
- Du blickst niemals zurück auf das, was du schon erreicht hast.
- Du ignorierst deine körperlichen Grenzen.
- Du kalkulierst mit einem Tag, der 36 Stunden hat und setzt keine Prioritäten.
- Wenn etwas nicht sofort klappt, zweifelst du zuallererst an dir selbst.
Stress funktioniert in allen Lebenslagen. Das ist ziemlich beeindruckend. Bei Erfolg im Job (“Ich habe sooo viel zu tun!”), bei Misserfolg (“Ich kriege einfach nichts hin!”), bei der Jobsuche (“Ich muss bis morgen 100 Bewerbungen schreiben!”) und sogar im Urlaub (“Ich will auf jeden Fall alles sehen!”).
Warum ist das so? Oder anders gefragt: Wozu könnte es gut sein, sich selbst zu stressen? Hier müssen wir zwischen vorübergehendem und dauerhaftem Stress unterscheiden.
Stress hat viele Vorteile
Vorübergehend kann uns das Erleben von Stress helfen, große Kräfte zu mobilisieren. In Ausnahmesituationen funktionieren wir auch mal mit nur drei Stunden Schlaf pro Nacht. Das ist praktisch, wenn es zum Beispiel darum geht ein wichtiges Projekt abzuschließen oder eine private Krise und den Alltag unter einen Hut zu bekommen.
Auch dauerhafter Stress hat viele Vorteile. Zumindest auf den ersten Blick. Welche Vorteile kommen dir bekannt vor?
- Wenn du gestresst bist, merkst du gar nicht, ob du gerade mit deinem Leben zufrieden bist.
- Wenn du gestresst bist, hast du keine Zeit zu hinterfragen, ob das, was du machst, sinnvoll ist.
- Wenn du keine Prioritäten setzt, musst du auch keine Entscheidungen treffen.
- Wenn du anderen (deiner Chefin, dem Leben...) die Schuld gibst, musst du auch keine Verantwortung übernehmen.
- Last but not least: Wenn du ganz besonders viel Stress hast, kannst du dich besonders wichtig und wertvoll fühlen.
Stress hilft uns dabei unangenehmen Gedanken aus dem Weg zu gehen. Wir geben uns selbst einfach keine Chance genau hinzuhören.
Stress ist ein Alarmsignal
Umgekehrt bedeutet das: Stress ist ein Alarmsignal, dass etwas gerade nicht gut ist. Natürlich gibt es einfach unangenehme Situationen. Momente, die wir uns so nicht für unser Leben wünschen. Ich möchte nicht sagen, dass jeder alleine in der Hand hat, wie gut sein Leben läuft. Es gibt vieles, das wir nicht kontrollieren und noch nicht mal beeinflussen können. Trotzdem können wir mit den meisten Situationen gut umgehen, wenn wir es nur wollen. Es ist in (fast) jeder Situation möglich, zu innerer Ruhe und Gelassenheit zu finden.
Nicht jede Situation tut uns gut. Aber wir können lernen, mit (fast) allen Situationen gut umzugehen.
Ganz konkret kannst du mit stressigen Situationen gelassener umgehen, wenn du die folgenden drei Schritte befolgst. Wenn du Lust hast, überlege dir jetzt eine konkrete Situation: Was stresst dich gerade?
1. Akzeptiere was ist
Wir wünschen uns oft, dass das Leben anders wäre als es ist. Natürlich wäre es toll, wenn du am Tag nach deiner Kündigung schon einen neuen Job hättest. Oder dich zumindest mit viel Energie in die Suche stürzen könntest. Wenn du aber gerade Erholung brauchst, dann ist das einfach so.
Finde zu mehr Ruhe, indem du dich fragst: Was sind die Aspekte der Situation, die ich beeinflussen kann? Welche liegen außerhalb meiner Kontrolle? Welche Gefühle und Bedürfnisse nehme ich in mir wahr? Welche „Vorteile“ hat es für mich gerade gestresst zu sein?
2. Übernimm Verantwortung für dich und triff Entscheidungen
Jetzt weißt du worauf du Einfluss hast. Als nächstes geht es darum, ins Handeln zu kommen und das Beste aus der Situation zu machen. Das kann auch bedeuten erstmal zur Ruhe zu kommen anstatt in blinden Aktionismus zu verfallen.
Finde zu mehr Gelassenheit, indem du dich fragst: Was könntest du jetzt alles machen oder nicht machen? Was davon hat gerade Priorität? Was ist aktuell gar nicht wichtig? Wie kannst du die Situation so gestalten, dass sie etwas Positives hat?
3. Reflektiere deinen Anspruch an dich selbst
Sehr viel Stress entsteht dadurch, dass wir uns bewerten und vergleichen. Einerseits kann da viel Selbsterkenntnis drin stecken. Andererseits kann es uns auch ausbremsen. Statt kleine Erfolge zu feiern, sind wir traurig, dass wir noch nicht fünf Schritte weiter sind.
Finde zu mehr Zufriedenheit, indem du dich fragst: In dieser konkreten Situation, was ist dein Anspruch an dich selbst? Was glaubst du über dich, wenn du dem nicht gerecht wirst? Was ist das Beste, was du in dieser Situation geben kannst? Wie möchtest du dich gerne fühlen (ruhig, gelassen, zufrieden, ausgeglichen, zuversichtlich, glücklich, leicht, …)?
Stress gehört zum Leben dazu.
Für mich persönlich sehe ich es inzwischen so: Stress gehört zum Leben dazu. Es wird immer wieder Situationen geben, die mich aus dem Gleichgewicht bringen. Das Leben verändert sich schließlich non-stop. Wenn ich merke, dass mich etwas stresst, ist das ein Zeichen für mich innezuhalten und nachzuforschen. Was ist eigentlich gerade los? Welchen Anspruch habe ich gerade an mich? Was ist mir gerade wirklich wichtig?
Und dann mache ich ganz entspannt und in meinem Tempo das, was wirklich wichtig ist.
Das kannst du auch.
Über die Autorin
Tina Röbel ist Coach, Trainerin und Forscherin. Sie glaubt, dass gesellschaftlicher Wandel nur funktioniert, wenn wir den Mut finden, wir selbst zu sein. Mit ihrer Arbeit unterstützt Tina Menschen und Organisationen, die die Welt verbessern wollen. Im Einzelcoaching geht es dabei oft um gute Arbeit und gutes Zeit- und Selbstmanagement. Tina ist Berlinerin und lebt und arbeitet in Hamburg. Mehr zu Tina und ihrem Coachingansatz: www.tinaroebel.de
Original article published April 2017.