Von Diversität zu reden ist eine Sache, diese wirklich im eigenen Unternehmen umzusetzen schon eine ganz andere. Diversicon geht einen Schritt weiter und hilft Unternehmen dabei, mehr Vielfalt zu leben. Sie sind ein Sozialunternehmen, dass der hohen Arbeitslosigkeit von Autistinnen und Autisten entgegenwirken möchte. Hierzu begleitet das Team von Diversicon Menschen im Autismus-Spektrum auf ihrem Weg in Arbeit und unterstützt gleichzeitig Unternehmen dabei, Diversität tagtäglich zu leben. Erfahre im Interview mit Sally Maria Ollech, Mitglied der Geschäftsleitung, wie Diversicon arbeitet und weshalb Vielfalt gewinnbringend für alle ist.
"Bei Diversicon denken wir in Fähigkeiten und vermitteln Menschen entlang ihrer Stärken, weniger die dahinterliegenden Lebensläufe."
Wie wurde Diversicon gegründet?
Unsere beiden Gründer Dirk Müller-Remus und René Kuhlemann haben beide einen persönlichen Bezug zum Thema Autismus: Dirk ist Vater eines Asperger-Autisten und hat seit der Gründung von auticon das Thema Autismus & Arbeit zu seiner Lebensaufgabe gemacht. René ist selbst Asperger-Autist und hat in seinem Berufsleben als Unternehmensberater immer wieder auch Erfahrungen sammeln können, wie die Arbeitswelt noch nicht unbedingt Vielfalt und Querdenken fördert.
Mit der Gründung und dem Aufbau von auticon konnte gezeigt werden, dass Autistinnen und Autisten ihre besonderen Fähigkeiten gewinnbringend auf dem ersten Arbeitsmarkt einbringen können, wenn auf ihre Bedürfnisse, bspw. eine reizärmere Arbeitsumgebung, eingegangen wird. Allerdings konzentriert auticon sich auf IT-Beratung. Es kam immer wieder die Frage: Was ist mit den Autist*innen, die kein Spezialinteresse im Bereich IT haben oder die weniger belastbar sind und nicht in wechselnden Beraterprojekten arbeiten können? – Von diesen Fragen angetrieben, entwickelten Dirk und René das Konzept von Diversicon, der Begleitung und Vermittlung in Arbeit entlang autistischer Stärken.
Und wie bist Du zu Diversicon gekommen?
Während René und Dirk die Autismusexperten im Gründerteam sind, bringe ich Erfahrungen mit dem sozialunternehmerischen, ressourcenorientierten Ansatz mit, der aus einer vermeintlichen Schwäche eine Stärke macht. Über die Gründung und den Organisationsaufbau von querstadtein habe ich mich viel mit sozialunternehmerischen Fragen auseinandergesetzt. Als ich im Mai 2017 das Team von Dirk und René ergänzte, war das Thema Autismus noch neu für mich. Es ist sehr spannend und eine Bereicherung für mich, nun bewusster Autistinnen und Autisten und ihre Perspektive auf die Dinge kennenzulernen. Ich selbst reflektiere dadurch meine eigene Wahrnehmung noch einmal neu und erlebe Reize bewusster. Und für Diversität habe ich mich eigentlich schon immer eingesetzt.
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Welche Schwierigkeiten haben Menschen im Autismusspektrum bei der Arbeitssuche?
Autist*innen haben häufig besondere Stärken, sind motiviert und gut ausgebildet bzw. eignen sich neues Wissen schnell autodidaktisch an. Es sind unserer Erfahrung nach also weniger fehlende fachliche Kompetenzen, sondern Herausforderungen in der sozialen Interaktion und Kommunikation, die ihre Jobsuche und das Berufsleben häufig erschweren.
Wenngleich die Situation natürlich für jede/jeden Autist*in individuell anders ist, lässt sich die Ausgangssituation etwas verallgemeinern: viele Autist*innen verfügen nicht über lückenlose Erwerbsbiographien – in Deutschland wird jedoch unserer Erfahrung nach noch immer stark auf den Lebenslauf geschaut. Bei Diversicon denken wir hingegen in Fähigkeiten und vermitteln Menschen entlang ihrer Stärken, weniger die dahinterliegenden Lebensläufe. Eine weitere Hürde in Bewerbungsgesprächen und auch innerhalb der Probezeit kann die sachliche, ehrliche und direkte Kommunikation vieler Autistinnen und Autisten sein – diese kann auf Gesprächspartner*innen befremdlich wirken. Unserer Erfahrung nach hilft es, wenn beide Seiten mehr voneinander und von den jeweiligen Bedürfnissen wissen – das vermeidet unnötige Missverständnisse.
Wie versucht ihr diese Situation zu verbessern?
Indem wir an beiden Seiten ansetzen: Zum einen unterstützen wir Autistinnen und Autisten, die auf Arbeitssuche sind dabei, ihre eigenen Stärken noch klarer zu erkennen und zu definieren und ihre individuellen beruflichen Ziele zu fokussieren. Wir begleiten die Bewerbungsphase und treten auch als Personalvermittler auf. Zum anderen sensibilisieren und informieren wir die Arbeitswelt und auch die Arbeitsagenturen und Jobcenter zum Themenfeld Autismus und Arbeit. Diversicon bringt so autistische Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber zusammen und begleitet sie auch durch bedarfsorientiertes Job-Coaching. Der Job-Coach trägt als Ansprechpartner*in für beide Seiten zur nachhaltigen Stabilisierung einer Anstellung bei.
Welche Stärken können insbesondere Autistinnen und Autisten mitbringen?
Grundsätzlich haben Autistinnen und Autisten – wie alle anderen Leute auch – sehr individuelle und unterschiedliche Stärken. Nichtsdestotrotz gibt es Dinge, die viele Autist*innen besonders gut und in der Regel sogar besser können als Menschen, die nicht im autistischen Spektrum sind. Beispielsweise haben viele Autist*innen ein intrinsisches Qualitätsbewusstsein und einen Blick für Zusammenhänge, eine sehr detailorientierte Wahrnehmung bis hin zu Mustererkennung. Einige haben ein intuitives Verständnis für technische Systeme, andere besondere Fähigkeiten in Entwicklung und Design. In unserem berufsbezogenen Kurs – einer Kombination aus Gruppen- und Einzelcoaching – begleiten wir unsere Teilnehmenden dabei, ihre individuellen Fähigkeiten und Stärken herauszuarbeiten und daraus berufliche Aufgabenfelder abzuleiten.
Welche Wirkung strebt Diversicon an?
Mit unserem sozialunternehmerischen Ansatz möchten wir dazu beitragen, die hohe Arbeitslosigkeit von Menschen im Autismusspektrum zu verringern. Außerdem haben wir eine Vision einer Arbeitswelt, in der unser #verschiedenistnormal Realität geworden ist.
In unseren unterschiedlichen Angeboten haben wir dabei auch unterschiedliche Wirkungsziele – das berufsorientierende Gruppen- und Einzelcoaching soll jedem Teilnehmenden zu einem nächsten Schritt auf ihrem bzw. seinem individuellen Berufsweg verhelfen. Das Feedback der Abolvent*innen der ersten drei Kurse ist toll. Wir können beobachten, wie die Teilnehmenden im Kursverlauf mehr und mehr lernen, auf ihre Stärken zu vertrauen und eigene Ziele als nächste Schritte zu definieren.
Im daran anschließenden optionalen Angebot der Bewerbungsbegleitung und Personalvermittlung werden wir uns natürlich auch an konkret vermittelten Personen messen – allerdings bauen wir diesen Bereich gerade erst auf, d.h. langsam wächst unser Pool an Kandidat*innen mit den unterschiedlichsten Profilen und gleichzeitig suchen wir interessierte Arbeitgeber*innen in Berlin und Brandenburg, die Interesse haben, Autist*innen einzustellen. Hier dauert es, bis wir die ersten Vakanzen zu Profilen matchen können, sind aber derzeit in den ersten Gesprächen.
Im Job-Coaching-Modul geht es uns vorrangig um eine Stabilisierung bestehender oder eben neuer Arbeitsverhältnisse und einer möglichst hohen Autonomie und Selbstständigkeit der Coachees. Gleichzeitig wird Autismuskompetenz auf Seiten der Arbeitgeber aufgebaut – auf lange Sicht und im Idealfall ist Job-Coaching seitens Diversicon irgendwann nur noch in größeren Abständen oder gar nicht mehr erforderlich.
Wieso ist aus eurer Sicht Diversität eine Bereicherung für Unternehmen oder für unsere Gesellschaft?
Zu dieser Frage gibt es Studien, die beide Seiten belegen – ich möchte mich jedoch weniger auf Studien berufen, als auf unsere eigene Erfahrung im Team: Wir haben bei Diversicon in mehreren Dimensionen ein diverses Team und das halte ich für enorm wichtig und innovationsfördernd. Es bringt die Organisation weiter, wenn Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungshintergründen betrachtet und weiterentwickelt werden. Autist*innen sind dabei vielfach Querdenker*innen, die bestehende Abläufe noch einmal neu in Frage stellen und optimieren und meist ein hohes Qualitätsbewusstsein haben.
Und gleichzeitig halte ich es für wichtig sich klar zu machen, dass dieser Mehrwert und mögliche Innovationen ihren Preis haben: Inklusive Teams sind toll und gleichzeitig fordern sie jedes einzelne Teammitglied auch anders heraus und erfordern an vielen Stellen eine Reflexion des eigenen Verhaltens und der eigenen Bedürfnisse. Darin sehe ich einen Katalysator zur Weiterentwicklung, aber natürlich gibt es auch anstrengende Situationen, in denen man in einer homogenen Gruppe vielleicht schneller, nicht jedoch unbedingt zu besseren Ergebnissen kommen würde.
Sally Ollech gründete im Sommer 2012 querstadtein – Berlin anders sehen, arbeitete parallel an der Schnittstelle von Wirtschaft, Naturschutz und Politik fünf Jahre für BiGC, ein Unternehmensnetzwerk zum Thema Biodiversität und baute anschließend den dezentralen Partnerbereich bei der GemüseAckerdemie auf. Aktuell ist Sally Teil der Geschäftsleitung von Diversicon. Zudem arbeitet sie freiberuflich als Coach & Trainerin im Frischluft-Netzwerk.
Das Titelbild zeigt das Gründungsteam von Diversicon: René Kuhlemann, Sally Maria Ollech und Dirk Müller-Remus
© TheHundert Vol. 10 Berlin – Jasper Kettner