ursprünglich erschienen: 22.04.2016
Als Zusammenschluss von über 8000 rechtlich eigenständigen Trägern mit rund 590.000 Mitarbeitern, gilt der Deutsche Caritasverband als der größte privatrechtliche Arbeitgeber Deutschlands. Zusätzlich engagieren sich rund 500.000 ehrenamtliche Helfer in den Einrichtungen der Caritas. Wichtig, also.
Alle drei Jahre treffen sich die Fach- und Führungskräfte des Verbands zum internen Kongress, um u.a. sich zu den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen auszutauschen. Dieses Jahr steht der Demografiewandel auf dem Agenda. Wir haben Sabine Depew, Leiterin des Bereichs Kinder, Jugend und Familie beim Kölner Verband gebeten, zu berichten.
Es ist ein sehr sonniger Frühlingstag, an dem ich in Berlin ankomme. Fast ein wenig zu warm für diese Jahreszeit.
Ich beziehe mein Hotel inmitten der Plattenbauten am Alex. Hotel und Wetter sind beide ein wenig symbolisch für die Aufbruchstimmung sind, die ich fühle. Es muss etwas geschehen. Wir stehen an einem Wendepunkt der sozialen Arbeit. Und der Titel des Kongresses ist dafür programmatisch: Demografiefest.
Das Hotel ist nur ein paar Schritte vom Berliner Congress Center entfernt und ich lächle amüsiert bei dem Gedanken, wie wohl der Bogen zwischen dieser lockeren Start Up Szene und dem ehrwürdigen Verband zu schlagen ist, für den ich seit vielen Jahren leidenschaftlich gerne arbeite und mit dem ich jetzt ein DemografieFest feiern darf.
Ein Verband verbindet.
Als ich das Congress Center betrete, empfängt mich ein Stimmengewirr und es ist so voll, dass ich kaum durchkomme. Ich sehe viele bekannte Gesichter. Menschen umarmen sich, freuen sich, sich zu treffen, tauschen sich aus.
Hier wird in den nächsten Tagen viel Zeit für Austausch, Reflexion und Strategie sein. Das zeichnet den Verband aus. Er ist ein Netzwerk. Kein Konzern.
Ein Gedanke, der mich in den Tagen immer wieder einholt. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege, die in der Start up Szene manchmal auch liebevoll „The Big Six“ genannt werden, sind eigentlich von der Natur der Sache her - und waren es auch schon immer - Netzwerke, die durch ihre Verbundenheit das geleistet haben, was wir heutzutage durch die digitalen Netzwerke kennen.: Verbindung herstellen, sich inspirieren, austauschen, Kontakte machen, Motoren für Innovationen sein. Start ups hießen hier Projekte. Aber sonst war vor Jahren doch vieles vergleichbar.
Durch die Ökonomisierung der sozialen Arbeit ist diese „Jugendkultur“ ein wenig auf der Strecke geblieben. Und die Menschen sind eben auch älter geworden. Establishment. Das spricht auch für den Verband, denn Arbeitsplätze sind hier so attraktiv, dass man gerne bleibt.
Ich sehe Menschen, die ich über Jahrzehnte kenne. Es gibt welche in dunklen Anzügen und solche in karierten Hemden und Jeans. Es gibt viele Herren, weniger Frauen. Es gibt viele Ältere, weniger Jüngere. Es gibt viele Menschen ohne Zuwanderungsgeschichte. Das ist die Realität in vielen deutschen Organisationen dieser Art. Organisationen, in denen über Jahre feste Strukturen gewachsen und die hierarchisch organisiert sind.
Aber unter Strich bleibt: Ein Verband verbindet.
Demografie ist ein Fest.
Der große Kuppelsaal im ersten Stock füllt sich. Die Menschen nehmen an großen runden Tischen Platz. Der Präsident steigt auf die Bühne und stellt sich hinter das Rednerpult.
Hinter dem Präsidenten ist die Twitterwall eingeblendet. Nur wenige im Raum nehmen sie wahr oder können damit etwas anfangen.
Meine Gedanken schweifen etwas ab und ich überlege, wie wohl Kongresse der Zukunft ablaufen werden. Wird es da noch Bühnen und Rednerpulte geben? Werden die Veranstaltungen noch den Titel Kongress haben? Dann schweift mein Blick durch den Raum. Die demographische Entwicklung ist auch an der Caritas nicht vorbei gegangen.
Der Philosoph Richard David Precht wird am dritten Tag einen Blick in den vollen Saal werfen - bis zu 1000 Besucher/innen wurden gezählt - und im Kontext seines Vortrags anmerken, dass es die Meisten von uns in etwa zwanzig Jahren mit Pflegeroboter zu tun haben werden und das Erschreckende an dieser Erkenntnis ist nicht die persönliche Betroffenheit, sondern dass:
- wir demografisch nicht gut genug gemischt sind,
- uns die Roboter so futuristisch erscheinen, dass es als Thema kaum wahr genommen wird und,
- dass wir zwar über Generationengerechtigkeit sprechen, aber sie nicht praktizieren.
Das ist eine der Herausforderungen der Zukunft: Die jungen Menschen mehr und die Alten weniger sprechen lassen. Denn die Babyboomer und Co. sind eine starke Generation mit viel Einfluss. Sie werden sowieso gehört. Aber ihnen gehört nicht die ferne Zukunft.
Das Gute an diesem DemografieFest ist, es wirft Scheinwerfer auf die Themen, die wichtig sind:
- Hochbetagte
- Fachkräftemangel
- Generationengerechtigkeit
- Geschlechtergerechtigkeit
- Generation Y
- Bildungschancen für Flüchtlinge
- Digitalisierung der Sozial- und Gesundheitswirtschaft.
Die hohe Kunst ist es, diese Themen nicht nur zu diskutieren, sondern sie auch zu leben.
Sozial wird digital.
Im Vorfeld des Kongresses ist die Neue Caritas erschienen, das Fachorgan des Verbandes. Es beschäftigt sich mit dem Schwerpunktthema „Digitalisierung der sozialen Arbeit“.
Innerhalb der Caritas befassen wir uns in einer kleinen Gruppe mit diesem Thema. Wir haben uns zunächst virtuell in Facebookgruppen und über Twitter vernetzt und dann auch persönlich kennen gelernt und getroffen. Wir kommen aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern. Uns alle bewegt die Frage, welche Herausforderungen die Digitalisierung auf die Gesundheits- und Sozialwirtschaft hat.
So hat der Kongress durch unsere Mitgestaltung in Tablesessions und Foren auch das Thema auf die Agenda gebracht. Das Programm und auch Interaktionen werden über eine App gemanagt, die ich schon im Vorfeld als äußerst hilfreich erlebe. Für viele ist das allerdings sehr ungewohnt und unbekannt, so dass die Meisten keine Fotos hochladen oder Information einstellen. Und das ist symptomatisch für die Auseinandersetzung mit dem Thema.
Die Themen der Tablesessions wurden von den Teilnehmen selbst eingebracht. Vier von 37 haben mit Digitalisierung zu tun. Längst nicht genug. Aber immerhin.
Der Kongress hat tolle Stilelemente: die App, die Tablesessions, Graphic Recording.Themen, Akzente und Nuancen können damit ganz leicht fotografiert und festgehalten oder auch kommuniziert werden.
Und am letzten Tag hat uns Richard David Precht in seinem sehr gelungenen Vortrag fast die Leviten gelesen: Was ist die Rolle der Caritas nach in dieser 4. industriellen Revolution? Wir haben Angst davor. Ist aber nicht nötig. Nach der ersten Revolution waren 90% der Arbeitsplätze durch Automatisierung verschwunden. Es geht weiter. Den Menschen geht es heute besser als damals. Wichtig ist nur, dass wir den Wandel mit gestalten.
Noch verhält sich der Verband als gäbe es keine Roboter, digitale Medizin, Chatberatung und Social Media. Das muss sich ändern. In Sozialarbeit 4.0 und Verbandsarbeit 2020 habe ich die Herausforderungen in meinem Blog Zeitzuteilen beschrieben.
Meine Erkenntnis nach diesem Event ist:
- Demografischer Wandel bedeutet Kulturwandel.
- Wenn wir attrakiver Arbeitgeber bleiben wollen, dann nützt es nicht, einzelne Projekte zu machen und familienbewusster zu sein.
- Wir müssen die nächsten drei Jahre - bis zum nächsten Kongress- einen Kulturbruch wagen.
- Bunter, jünger, digitaler ist die Devise. Vielleicht ein bisschen back to the roots. Kreativ und vernetzt - befreundet, gemeinsam engagiert für die Sache.
- Die Start up Szene macht es uns gerade wunderbar vor.
- Sich verbünden, sich für Themen engagieren, zusammen mit denen, die auch Interesse am Thema haben, zusammen mit denen, die es betrifft.
Wir brauchen eine Digital Agenda und zwar jetzt!
Über die Autorin
Sabine Depew leitet beim Diözesan - Caritasverband für das Erzbistum Köln e.V. den Bereich Kinder, Jugend und Familie. Sie hat in Bonn Diplom – Erziehungs- und Bildungswissenschaften sowie Medienpädagogik studiert und arbeitet seit mehr als 20 Jahren im sozial-caritativen Bereich.
Sie bloggt über neue Medien, den Einsatz von Bildungstechnologien und digitale Trends in der sozialen Arbeit. Es ist ihr ein Anliegen, dass sozial-caritatives Handeln nicht bei den digitalen Medien aufhört, sondern durch diese verstärkt wird.