Es gibt momentan viele Scheindiskussionen, an die sich niemand erinnern wird und die an der Oberfläche kratzen. Diese Diskussionen, oder eher Debatten, nutzen einen Freiheitsbegriff, der meiner Meinung nach gefährlich ist und die Idee des Liberalismus ins Absurde führt.
Dies ist tragisch, denn die liberalistische Idee zu verteidigen, wird eine der Kernaufgaben unserer Zeit werden. Die Scheindiskussionen werden über viele Themen geführt: Darf man unbegrenzt viel Fleisch essen? Darf man Diesel fahren? Darf man ohne Tempolimit auf der Autobahn fahren? Darf man Silvesterfeuerwerk abfeuern Diese vielleicht relevanten Themen werden in Scheindiskussionen verhandelt. Warum handelt es sich nicht um ernstzunehmende Debatten? Während auf der angreifenden Seite (die Norm und Gesetzgebung muss sich verändern) Fakten und logische Argumente genannt werden, begegnet die verteidigende Seite (Status quo muss erhalten bleiben) mit empörtem, hysterischen Geschrei. Ausgelöst wird diese Reaktion durch den Eindruck, dass hier eine gegebene Freiheit genommen wird. Ich darf nicht mehr unendliche Mengen von Würsten essen? Ich darf nicht mehr mit 220 km/h über die Autobahn düsen? Ich darf nicht mehr mit meinen Kindern Silvesterfeuerwerk zünden? Warum, das ist doch meine Freiheit. Ich bin erwachsen, ich darf tun und lassen was ich möchte. Ich kann mich mündig dazu entscheiden diese Freiheiten zu nutzen und die Risiken auf mich nehmen. All dies ist natürlich richtig, wenn durch diese Handlungen nur Risiken für das eigene Wohl entstehen würden und es keine Folgen für andere gibt.
In aller Kürze:
Fleischkonsum — persönliches Risiko: Gesundheit — gesellschaftliches Risiko: Produktion zerstört Umwelt
Kein Tempolimit auf der Autobahn — persönliches Risiko: Unfalltod — gesellschaftliches Risiko: Unfalltod anderer Verkehrsteilnehmer*innen
Silvesterfeuerwerk — persönliches Risiko: Verstümmelung von Extremitäten — gesellschaftliches Risiko: Verstümmelung anderer und Umweltverschmutzung durch Feinstaub
Das kann man nun in aller Gänze ausführen und mit weiteren Beispielen füttern, dies möchte ich aber an dieser Stelle nicht tun. Sichtbar wird, dass es sich um einen Aushandlungsprozess handelt, bei dem abgewägt werden muss, ob durch die Freiheit des einen, die Freiheit der anderen eingeschränkt wird. Ich denke, dass dies der Fall ist, dies ist aber nicht Kern dieses Textes.
Die bestehende Freiheit wurde dem Individuum mit einem anderen Wissensstand gegeben. Die Folgen von massiven Fleischkonsum und der industriellen Produktion waren, als dieses Recht eingeräumt wurde, nicht einzuschätzen. Das Gleiche gilt für die Feinstaubmengen, die beim zünden von Silvesterfeuerwerk freigesetzt werden. Mit einem neuen Wissensstand kommt es zu einer Neubewertung der Situation, in der es legitim ist Freiheitsrechte auch wieder abzuerkennen, wenn dies das Gemeinwohl fördert.
Verteidigt von Scheinliberalen: Das Recht auf unendliche Mengen Wurst.
Ein gutes Beispiel für eine Reduktion von individueller Freiheit zum Wohl der Gesellschaft verdeutlicht das Waffenverbot in Australien. Australien hatte über eine lange Zeit ein liberales Waffenrecht, vergleichbar mit dem in den USA. Nach einigen äußerst blutigen Amokläufen mit Schußwaffen führte die damals konservative Regierung ein Schußwaffenverbot ein. Gegen massive Proteste der Bevölkerung, die ähnliche Argumente wie die Waffennarren in den USA anbrachten, wurden die Schußwaffen eingesammelt und zerstört. Diese heftige Einschränkung der Freiheit wird nicht nur durch die Folgen, sondern sogar durch die öffentliche Meinung der Bevölkerung bis heute positiv betrachtet. Die Amokläufe wurden stark reduziert. Tod durch Schußwaffen ist wesentlich seltener geworden. Dies ist meiner Meinung vergleichbar mit dem nicht vorhandenen Tempolimit auf der Autobahn, welches auf der Welt einzigartig ist. Einzigartig fahrlässig. Dafür muss man sich nur die Statistiken von Verkehrstoten anschauen.
Unsere Freiheit wird nicht am Grill verteidigt, du Würstchen.
Viele dieser selbsternannten Liberalen verteidigen also ihre individuellen Vorlieben mit dem Begriff der Freiheit. Dies ist tragisch, denn Freiheit ist dann doch etwas Existenzielles, etwas Lebensnotwendiges für eine Demokratie. Dies hat aber nichts mit Böllern, Würstchen und Autos zu tun, dazu später mehr. Die Freiheit wird auch in anderen, relevanteren Debatten angeführt. Bei der Verteilung von Wohlstand zum Beispiel. Hier sind die Wohlhabenden der Meinung, dass es ihre Freiheit ist, die ihnen genommen wird, wenn sie die wirkliche Steuerlast tragen sollen. Deshalb machen sie sich als Steuerflüchtlinge auf in Steueroasen. Dies trifft natürlich nicht nur auf Individuen zu, sondern auch auf Unternehmen.
Freiheit ist also etwas, was ich immer dann als Argument vorbringen darf, wenn ich meinen Egoismus gegenüber der Gesellschaft verteidigen möchte? Meine individuelle Freiheit ist wichtiger als die Gemeinschaft? Gerne wird die Gegenseite als moralisch entlarvt. Moralisierend! Verbotspartei! Moraldiktatur! Diese gelernten hyperventilierenden Reaktionsmuster sind nicht durchdacht. Wenn man es grob fassen will kann man die Moraltheorie in drei Unterbereiche gliedern:
- Deontologische Ethik: Hier wird die Handlung als intrinsisch gut oder schlecht und nicht nur anhand ihrer Konsequenzen bewertet.
- Tugendethik: Hier ist der Charakter und die Motivation des Akteurs die entscheidende Komponente.
- Konsequentialismus: Wert einer Handlung wird anhand der Folgen beurteilt. Hierunter fällt unter anderem der Utilitarismus.
Da es in der gesellschaftlichen Debatte niemandem darum geht darüber zu philosophieren, ob das Drehen von Würstchen auf dem Grill eine gute Handlung ist (Deontologische Ethik), oder sich auch niemand dafür interessiert, welche Motivation es gibt das Gaspedal über 220 km/h durchzudrücken (Tugendethik), oder warum man gerne Steuern hinterzieht und damit das Gemeinwohl massiv schädigt (Amazon, Apple, Ikea and friends), handelt es sich um Konsequentialismus. Es geht um die Folgen der Handlung für das Individuum und für die Gesellschaft. Diese lassen sich durch Fakten und Statistiken einfach nachvollziehen. Bis jetzt sehe ich die Zahlen durchaus auf der Seite der Progressiven, dies liegt aber an einem Mangel an Argumentationen auf der Gegenseite. Es ist sicher nicht so, dass es keine guten Argumente gibt, sie werden aber nicht mal bemüht. Bemüht wird nur die bisher gegebene Freiheit.
Diese Freiheit kann ich aber nur verteidigen, wenn ich sie nicht als gesetzt und gegeben sehe, was sie nicht ist, sondern als eine aus einem Aushandlungsprozess gewonnene Freiheit. Ich muss mich also auf eine logische Diskussion einlassen und auch eingestehen, wenn sich die besseren Argumente auf der Gegenseite befinden, sonst bin ich ein kindlicher Charakter, der immer einen Lolli an der Kasse will, weil es ihn eben immer gegeben hat. Jetzt gibt es aber keinen mehr, weil der Doktor gesagt hat, dass du Karies hast, mein Schatz. Des Weiteren muss ich sehen, dass durch die Einschränkung meiner Freiheit, durch aus auch eine Freiheit für andere entstehen kann. Zum Beispiel die Freiheit zu leben (Tempolimit), zu atmen (Silvesterfeuerwerk, Rauchen in Bars) und Kinder, oder Enkel in einer zukunftsfähigen Welt aufzuziehen (Fleischkonsum). Einschränkung von Freiheit hat also nicht direkt eine misanthropische Verbotsgesellschaft zur Folge.
Zukunftsfähige Freiheit
Warum ist der Liberalismus eine der wichtigsten Positionen des 21. Jahrhundert und die Freiheit kein Naturgesetz?
Um diese Frage zu beantworten müssen wir uns ansehen, was Liberalismus wirklich ist und warum Freiheit für eine Demokratie unersetzbar ist.
Spoiler Alert: Das hat nichts mit Würsten, Autos und Silversterfeuerwerk zu tun.
Die Gemeinsamkeit der unterschiedlichen liberalen Strömungen ist die Wertschätzung individueller Freiheit und Selbstverantwortung. Jeder Mensch soll leben wie er, oder sie, möchte, wenn die Freiheit der Anderen nicht verletzt wird. Demokratische Nationalstaaten werden als Mittel gesehen, die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger zu schützen.
Meinungs-, Glaubens- und Gewissensfreiheit werden als Voraussetzung für Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung angesehen.
Jetzt schreien die würstchenverstehenden Raser auf: Ich will leben wie ich möchte, genau! Dies ist richtig, aber das Recht darauf kommt mit dem Zusatz: die Freiheit der anderen nicht einschränken.
Der Kern der liberalen Idee ist die Meinungs-, Glaubens- und Gewissensfreiheit. Ohne diese Rechte ist ein demokratische Gemeinwesen nicht möglich. Diese Rechte müssen verteidigt werden. Jetzt. Die Digitalisierung bietet zahlreiche Formen und Möglichkeiten diese Rechte einzuschränken. Seit dem Edward Snowden 2013 die globale Überwachung der USA mit den Verbündeten Kanada, Australien, Großbritannien, Neuseeland (Five Eyes) aufdeckte, sind wir uns bewusst darüber, dass jegliche Kommunikation im Internet überwacht werden kann. Diese absolute Überwachung steht in einem großen Gegensatz zu unseren liberalen Grundrechten. Sie zeigt deutlich auf, wie schnell diese Rechte verschwinden können. Die Möglichkeiten einer solchen Überwachung der eigenen Bürgerinnen und Bürger und die folgen für die Meinungsfreiheit können wir in Russland und China beobachten. Dies ist ein Gewaltmonopol des Staates welches durch eine liberale Stimme zurückgedrängt werden muss. Auch in Deutschland ist die Netzpolitik mehr als fragwürdig.
Die neuen Gesetze der Polizei in Bayern, NRW und anderen Bundesländern zeigt, das liberale Bürgerrechte immer weiter zurück gedrängt werden. Auch hier fehlt eine klare liberale Stimme, die nicht die Würstchen auf dem Grill, sondern die wirkliche Freiheit verteidigt.
Überall in unserer globalisierten Welt wird die Zivilgesellschaft zurückgedrängt, deren Freiheiten angegriffen. Ein aktuelles Beispiel aus Deutschland: Nach dem Aufdecken des Cum Ex Skandals wird zu aller erst gegen Oliver Schröm, Chefredakteur von Correctiv ermittelt, nicht gegen die Banker die 55 Milliarden Euro Steuergelder entwendet haben. Ausgerechnet Wolfgang Kubicki, Bundestagsvizepräsident der FDP, vertritt Hanno Berger, dem Erfinder der Cum Ex Geschäfte als sein Anwalt vor Gericht. Hier wird deutlich, es wird nicht die Freiheit des Individuums verteidigt, sondern die Freiheit der Mächtigen. Eine liberale Stimme die für die Bürgerrechte eintritt? Fehlanzeige.
Eine zukunftsfähige Demokratie ist nur mit einer liberalen Digitalisierung und der Schaffung von Freiheit und Schutz vor Überwachung im digitalen Raum möglich. Denn nur wer sich frei und nicht überwacht fühlt, kann seine Gedanken auf dem Markt der Ideen vertreten. Des Weiteren ist die Stärkung der Bürgerrechte und der Zivilgesellschaft essentiell für das Bestehen der Demokratie in der Zukunft.
Wir können überall auf der Welt einen Rückgang dieser Kernideen des Liberalismus beobachten. Eine Stimme die diese Freiheiten einfordert? Fehlanzeige. Worüber wird stattdessen diskutiert? Über Würste, Böller und Autos. Scheindiskussionen von Scheinliberalen.
Es gibt kein Recht auf die Zerstörung unserer Umwelt
Durch diese Scheindiskussionen wird der Freiheitsbegriff abgestumpft und nutzlos. Hört auf eure kleinen Würstchen zu verteidigen und werdet zu einer liberalen Stimme in der wirklichen gesellschaftlichen Debatte! Während die Kleingeister versuchen ihre Freiheit beim Böllern zu verteidigen, werden ihnen liberale Grundrechte genommen. Freiheit ist ein Aushandlungsprozess in der Gesellschaft, doch die Natur verhandelt nicht. Deshalb ist es notwendig und richtig “die Schädigung anderer zu verhüten” und endlich wieder auf die Folgen unseres Handelns zu gucken. Denn die Folgen unseres Handelns tragen wir, unsere Kinder, unsere Enkel und die anderen Nationen auf der Erde, welche die Leidtragende unseres Lebensstils sind und seien werden.
Die Freiheit die Umwelt zu zerstören gibt es nicht, denn die Umwelt betrifft uns alle. Dies ist auch kein moralisches Argument. Es ist ein alternativloses. Die Alternative ist die Zerstörung der Umwelt und der damit einhergehende Untergang der menschlichen Zivilisation. Die Natur wird weiterbestehen, darum müssen wir uns keine Sorgen machen. Es geht hier nicht um die Tiere, Flüsse, Meere, es geht um uns und die Generationen nach uns.
Hören wir doch auf so zu tun als gäbe es Alternativen zum Klimaschutz und gute Argumente für massiven Fleischkonsum und Umweltverschmutzung. Es ist wichtig, dass wir den Begriff der Freiheit zurück fordern. Freiheit ist kein Begriff, der egoistisches Handeln rechtfertigt. Freiheit ist etwas wertvolles. Die Grundlage für ein selbstverantwortliches Leben in einer Gemeinschaft. Eben diese Selbstverantwortung brauchen wir um eine zukunftsfähige, demokratische Gesellschaft zu gestalten.
Wir haben das Recht auf die Freiheit, dass wir, unsere Kinder und Enkel auf einer Welt aufziehen dürfen, die nicht durch egoistische Triebe zu Grunde gerichtet wurde.
Wir müssen dieses Recht auf Freiheit einfordern.
Dieser Artikel erschien zunächst auf dem Medium-Blog von Tobias Oertel.
Tobias Oertel ist Experte für die Themen Innovation und Digitalisierung in der Zivilgesellschaft. Er ist Mitgründer der Engagementplattform für Digitalexpert*innen und Kreative youvo.org. Zu gesellschaftlichen Themen schreibt er auf seinem Medium-Blog und auf Twitter.