Für einen guten Zweck arbeiten klingt toll. Aber wer will eigentlich überhaupt im gemeinnützigen [1] Bereich arbeiten ?
DIE ZEIT berichtete im Juni, dass auf 100 offene Stellen in Altenheimen und bei ambulanten Pflegediensten im Schnitt nur 21 BewerberInnen kommen. Neben dem Fachkräftemangel besteht auch Nachholbedarf in der Digitalisierung. Laut einer Umfrage unter 162 Non-Profit-Organisationen in Deutschland (Studie „Digitalisierung in Non-Profit-Organisationen“) hatte jede zweite Organisation 2017 noch keine Lösung parat um das Koordinieren von MitarbeiterInnen, Fundraising über digitale Kanäle, u.ä. auf bereits verfügbare digitale Tools umzustellen. Betrachten wir die Situation positiv: Jetzt ist die beste Zeit um die Arbeit im gemeinnützigen bzw. gemeinwohlorientierten Bereich [2] neu zu gestalten. Ich möchte Ihnen hier drei Organisationen vorstellen, denen dieser Wandel bereits gelungen ist.
Drei konkrete Beispiele
"Wir haben unseren HelferInnen so viel Entscheidungsfreiheit wie möglich übergeben. So konnten wir auch die Sanitäranlagen in 12 Stunden organisieren, statt in 10 Tagen wie bei den offiziellen Stellen üblich", berichtet Marina Lessig, ehemaliger Vorstand vom Münchener Kreisjugendring und Mitgründerin des Münchner Freiwillige e.V. Zusammen mit drei weiteren Führungskräften und 30 TeamleiterInnen hat sie über vier Wochen hinweg ca. 7.000 Freiwillige koordiniert, die im historischen September 2015 die eintreffenden Geflüchteten am Münchner Hauptbahnhof versorgten. Noch 2010 wurden SpontanhelferInnen seitens Feuerwehr und THW aktiv von Krisenorten ferngehalten, heute plant der Münchner Stadtrat auf Lessigs Initiative hin bereits eine formale Struktur für zukünftige offizielle Spontanhilfe. Denn Marina Lessig hatte eine zivile Antwort gefunden auf Merkels "Wir schaffen das".
Wie spontane Freiwillige zu festen Angestellten werden, erfahren wir von Raphael Fellmer: "Für unsere Mitstreiter und Mitstreiterinnen ist Lebensmittelrettung eine Herzensangelegenheit, eine Bewegung gegen die Verschwendung und für den Klimaschutz. Damit sie sich dieser wichtigen Arbeit nicht nur am Feierabend und Wochenende widmen können haben wir den unternehmerischen Ansatz gewählt, um ihnen Raum für diese Arbeit zu geben und faire Gehälter im Einklang mit ihrer jeweiligen Lebenssituation zahlen zu können.“ Ursprünglich hatte Fellmer nach dem Motto "Global denken – lokal handeln" 2012 die Plattform foodsharing.de mitgegründet um Betrieben und Haushälten die Möglichkeit zu geben überschüssige Lebensmittel zu teilen (aktuell 40.000 Mitglieder). Die Problematik war klar: Ganze 50% aller Lebensmittel in Deutschland landen auf dem Müll, die überflüssige Produktion und Entsorgung bedeuten enorme Klimabelastungen. 2017 gründete Fellmer zusammen mit Alexander Piutti und Martin Schott SIRPLUS als "Food Outlet" bzw. Reste-Supermarkt in der Wilmersdorfer Straße in Berlin. Heute hat SIRPLUS 60 MitarbeiterInnen und drei Filialen inklusive Online-Versand. In Kooperation mit METRO, BIO Company, Real usw. wurden laut Fellmer bisher über 700 Tonnen Lebensmittel gerettet und bis zu 80% günstiger verkauft. Das würdigte Julia Klöckner, die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft und ihre Jury im April mit dem Bundespreis 2018 "Für Engagement Gegen Lebensmittelverschwendung“. Mehr zum Thema Lebensmittelverschwendung in Deutschland in dieser Ausgabe der ZEIT.
SIRPLUS bei der Preisverleihung im April 2018 – Foto: BMEL/Christof Rieken
Doch auch fernab der Berliner Startup-Szene gibt es innovative gemeinwohlorientierte Organisationen. Im Odenwald nähe Mannheim haben Mechthild Reinhard und Dr. Gunther Schmidt 2007 das private Therapiezentrum sysTelios gegründet, dass dank der kostenlosen Augenhöhe-Filme mittlerweile deutschlandweit bekannt geworden ist. "Wir bieten hier Psychotherapie und psychosomatische Gesundheitsentwicklung an. Unser Therapieansatz verlangt von jeher Wertschätzung und Augenhöhe zwischen unserem Personal und den Klientinnen und Klienten. Und das haben wir auf unsere interne Zusammenarbeit übertragen – Ich war selbst erst überrascht, wie gut das funktioniert. Und wir hören nie auf uns gemeinsam als Organisation weiterzuentwickeln", erzählt Schmidt. Die 150 MitarbeiterInnen werden hier nicht als rein handelnde Beschäftigte bzw. "Erfüllungsgehilfen" betrachtet, sondern als gleichberechtigte Beteiligte an der Struktur und Ausrichtung des Therapiezentrums. Im monatlichen Plenum werden neue Ideen entwickelt um die Betreuung und Arbeitsverteilung zu verbessern. Gerade die enge Zusammenarbeit der therapeutischen und nicht-therapeutischen MitarbeiterInnen hat laut Reinhard zum Erfolg geführt.
Was wir daraus lernen können
Ob unternehmerisch oder rein ehrenamtlich, gemeinwohlorientierte Organisationen können Großes bewirken und langfristig erfolgreich sein. Was ist also das "Geheimrezept"? Aus meiner Sicht spielt hier die Art der Zusammenarbeit eine zentrale Rolle. An den genannten Beispielen habe ich Ihnen drei Prinzipien aufgezeigt, die wir bei swapwork bei vielen wirksamen Projekten gleichermaßen beobachtet haben: Das erste Prinzip ist Selbstorganisation, also das Übergeben von Entscheidungsfreiheiten und Verantwortung, wie es auch Marina Lessig beschreibt. Hier zeigt sich eindeutig, dass Teams und Einzelpersonen viel effektiver und eigenmotivierter arbeiten, wenn Führungskräfte Ihnen das nötige Vertrauen schenken.
Dazu gehört auch ein anderes Selbstverständnis in der Zusammenarbeit: Ganzheit ist das zweite Prinzip. Neben der offiziellen Rolle wird auch die Emotion, Lebenssituation und Haltung jedes Menschen berücksichtigt, somit entsteht ein Gefühl von Sicherheit und Zusammengehörigkeit. Raphael Fellmer hat mir bestätigt: Diese Form der Wertschätzung reduziert zwischenmenschliche Konflikte und steigert die Motivation aller sich für das gemeinsame Ziel einzusetzen.
Das dritte Prinzip ist die evolutionäre Weiterentwicklung, d.h. die kontinuierliche Reflektion und Anpassung der Zusammenarbeit um dem gemeinsamen Ziel und Zweck näher zu kommen. Da sich die inneren und äußeren Umstände stetig verändern muss auch die Organisation selbst anpassungs- und lernfähig bleiben. Am besten gelingt das, wie auch Dr. Gunther Schmidt beschreibt, durch die Beteiligung aller MitarbeiterInnen an dieser kontinuierlichen Entwicklung. So bleiben sinnorientierte Projekte langfristig erfolgreich, also im Sinne ihrer Mission wirksam.
Die genannten drei Prinzipien basieren auf der These der organisationalen Evolution von Frederic Laloux (Reinventing Organizations, 2014) und werden auf denkmodell.de gut zusammengefasst. In seinem Buch beschreibt Laloux anhand von 12 Unternehmen weltweit eine Bewegung hin zu einer neuen Epoche menschlicher Kooperation. In den oben erwähnten Augenhöhe-Filmen werden 6 deutsche Unternehmen vorgestellt, die ähnlich wegweisende Strukturen aufweisen und im Besonderen eine neue Form der Führung vorstellen.
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Ich freue mich über weitere Anregungen von Ihnen. Ist ihre Organisation auch ein "Pionier des Gemeinwohls"? Was denken Sie über den Wandel in der Zusammenarbeit, den ich mit diesen Beispielen illustriert habe?
Über den Autor: Thomas Zimmermann ist Co-Founder und Agile Coach bei swapwork UG.
[1] Hier wird ein spezifischer Begriff von "Gemeinnützigkeit" gemeint, definiert auf swapwork.de: "Dabei definieren wir gemeinnützig als umweltschonend, wertschätzend, und friedlich. Genauer bedeutet das achtsam mit den einzusetzenden Ressourcen umzugehen, respektvollen Umgang unter allen Akteuren zu pflegen und zu guter Letzt ein einträchtiges Zusammenleben zu fördern anstatt die Menschheit zu spalten. Unter Gemeinschaft verstehen wir sowohl die direkte als auch globale Nachbarschaft. Gemeinwohlorientiertes Handeln der Organisation entsteht für uns dann, wenn Grundbedürfnisse gesichert und Menschen nicht ausgebeutet werden. – Daran bemisst sich für uns der Erfolg der Organisation."
[2] Social Businesses sind Unternehmen, die gemeinwohlorientiert arbeiten und nicht primär nach Profitmaximierung streben. Prominente Beispiele sind Lemonaid (Fairtrade-Limonade) und die deutsche Fernselotterie. Non-Profit Organisationen (NPOs) haben hingegen gar keine Gewinnabsicht wie Verbände und Stiftungen, z.B. die Caritas oder die Robert-Bosch-Stiftung. Beide Spielarten eint die Ambition einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Als Oberbegriff für diese Organisationen wird u.a. „hybride Organisationen“ verwendet: die (verschieden gewichtete) Kombination aus sinnorientierter Arbeit und kommerzieller Struktur (vgl. Alter 2007).
Quellen
https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-06/altenpflege-arbeitsbedingungen-f…, 12.09.2018
https://www.zeit.de/2018/40/lebensmittelverschwendung-mindesthaltbarkei…, 30.09.2018
http://www.abendblatt-berlin.de/2018/03/17/SIRPLUS-zieht-positive-bilan…, 10.09.2018
https://www.tagesspiegel.de/themen/koepfe/auf-ein-glas-mit-raphael-fell…, 10.09.2018
https://www.personalpraxis24.de/aktuelles/thema-der-woche/archiv-themen…, 10.09.2018
https://www.digitalengagiert.de/blog/auch-die-zivilgesellschaft-muss-vo…, 12.09.2018
https://www.denkmodell.de/fundstuecke/reinventing-organizations/, 21.10.2018
Laloux, Frederic (2014): Reinventing Organizations, Nelson Parker, Brussels