Perspektive #3: Lars Büthe engagiert sich seit 25 Jahren aktiv für nachhaltige Entwicklung, aktuell ist er Mitgliederverwalter beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
“Die Herrlichkeit ist dahin von unserem gemeinsamen europäischen Haus.“ Auch wenn diese theatralische Wehklage nicht frei von Ironie ist, so ist doch Timothy Garton Ash, britischer Historiker und Professor für Europa-Studien an der Universität Oxford, ernsthaft besorgt angesichts der schweren Rückschläge der letzten zwölf Jahre:
- Der Verfassungsvertrag scheiterte 2005, nachdem in Frankreich und in den Niederlanden die Ratifizierung in Volksabstimmungen blockiert worden war.
- 2007 erfasste die Finanzkrise Europa und spitzte sich 2008 weiter zu.
- Bis heute dauert die europäische Staatsschuldenkrise an, die ab 2009 folgte.
- Die Europäische Union hat es nicht vermocht, eine gemeinsame Antwort auf den Ansturm von Immigranten und Asylsuchenden aus Syrien und anderen Konfliktregionen zu finden.
- Terroranschläge erschütterten die liberalen europäischen Gesellschaften.
- Populisten haben quer durch Europa Wahlen gewonnen.
„Und der Brexit eröffnet mir die Perspektive, zum 30. Jahrestag von 1989 meine Unionsbürgerschaft zu verlieren“, klagt Garton Ash in seiner Sammelrezension „Zerfällt Europa?“.
Ein ähnlich düsteres Bild entwirft Reporter ohne Grenzen (RSF). „Die Weltkarte der Pressefreiheit verdunkelt sich“ verkündet RSF und nimmt dabei Bezug auf die Visualisierung der Rangliste der Pressefreiheit 2017. Schwarz steht für eine „sehr schlechte“ Situation und ist – wenig überraschend – die vorherrschende Farbe im östlichen Maghreb, dem Mittleren Osten, Zentralasien, China und dem südostasiatischen Festland. Aber vielleicht noch dramatischer ist der Niedergang der Pressefreiheit in Europa. Gesetze zur Terrorismusbekämpfung schränken die Pressefreiheit selbst in traditionellen Bollwerken des Liberalismus wie Großbritannien ein (Rang 40 von 180; 2015: Rang 34). „Illiberale Demokratien“ stellen das Konzept des Pluralismus in Ungarn (Rang 71 nach Rang 65 im Jahr 2015) sowie – in unterschiedlichem Ausmaße – in den anderen Visegrád-Staaten infrage. „Europa hat weitestgehend seine Führungskraft verloren“ lautet das Fazit von RSF.
Die akademische Welt
Der Mangel an Freiheit und Toleranz betrifft über die Medien hinaus die akademische Welt, die Kunst und die Zivilgesellschaft. Am meisten Aufmerksamkeit wurde jüngst einem Angriff auf die Freiheit von Forschung und Lehre in Ungarn zuteil. Ein neues Bildungsgesetzt gefährdet dort die Existenz der Zentraleuropäischen Universität (CEU) in Budapest. Die Auseinandersetzung ist als „Freud’scher politischer Kampf“ zwischen Viktor Orbán, dem ungarischen Premierminister, und George Soros, dem Gründer und Finanzier der CEU, beschrieben worden. Der Konflikt veranschaulicht sowohl die Grenzen als auch die Möglichkeiten der Europäischen Union. Das ungarische Hochschulgesetzt stelle die EU auf die Probe, schreibt Dermot Hodson und bilanziert etwas voreilig: „Europa fällt bei diesem Test durch“. Inzwischen hat die EU ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die ungarische Regierung eingeleitet und die Europäische Volkspartei (EVP) hat nach eigenen Angaben Orbán und seine Fidesz-Partei zum Einlenken bewegt: Ministerpräsident Orbán habe der EVP zugesichert, Ungarn werde entsprechend handeln. Es bleibt abzuwarten, ob diese Entspannung von Dauer sein wird.
Das Paradox der Toleranz
Soros‘ internationales Netzwerk gemeinnütziger Institutionen firmiert als „Open Society Foundations“ (Stiftungen Offene Gesellschaft) – anknüpfend an „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“. Es wäre vermessen, dieses profunde, umfassende Werk von Karl Popper, erschienen 1945, zusammenfassen zu wollen. Einer der vielen Gedanken von frappierender Aktualität sticht besonders hervor: das Paradox der Toleranz. „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz.“ Willkommen in der Hate-Speech-Debatte! Timothy Garton Ash hat hierzu das Konzept der „robusten Zivilität“ entwickelt. Er postuliert das „Recht, andere beleidigen zu dürfen, […] ohne die Würde derer zu verletzen, mit denen oder über die wir sprechen.“ Diese Akzeptanz der Meinungsvielfalt ist eines der zehn Prinzipien der Meinungsfreiheit, die auf dem Internetportal freespeechdebate.com zur Diskussion gestellt werden: Was macht Meinungsfreiheit in Theorie und Praxis aus? Was sind ihre Voraussetzungen und wo findet sie ihre Grenzen? Der interkulturelle Anspruch des Projekts wird durch die 13 Sprachen auf der Website untermauert.
Ein Blick in das Leben von Timothy Garton Ash
Seit Jahrzehnten gilt Garton Ash als renommierter Intellektueller, Wissenschaftler und Journalist. 1955 geboren, kam er bereits 1978 nach Berlin, um seine Doktorarbeit über Berlin unter Hitler zu schreiben. Während er in beiden Teilen der geteilten Stadt forschte, verlagerte sich sein Augenmerk auf das kommunistische Regime und das Alltagsleben in der Deutschen Demokratischen Republik. „Die DDR heute“ lautete dann auch der Untertitel seines Bestsellers: „Und willst du nicht mein Bruder sein…“ (in Auszügen online: Teil 1, Teil 2, Teil 3). 1981 veröffentlicht, analysiert dieser Bericht die DDR im Lichte polnischen Solidarność-Bewegung. In der Folgezeit wurde Garton Ash zum Chronisten des Umbruchs in Zentraleuropa: vom Kriegsrecht in Polen über das Abtreten der alten Garde in der Sowjetunion, das Glasnost und Perestroika ermöglichte, den Fall der Berliner Mauer und die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei bis hin zum Zerfall der Sowjetunion. Als eine der größeren Publikationen Garton Ashs aus dieser Zeit sei genannt: The Magic Lantern: The Revolution of 1989 Witnessed in Warsaw, Budapest, Berlin, and Prague (1990, Buchrezension von Jan T. Grown in der New York Times). [Basierend auf diesem Buch sowie The Uses of Adversity: Essays on the Fate of Central Europe (1989) erschien 1990 auf Deutsch: Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas 1980-1990.]
Garton Ash wurde unfreiwillig selbst in die deutsche Zeitgeschichte verwickelt. Als regelmäßiger Besucher weiter Teile der DDR erregte er das Interesse der Stasi, des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit. Der berüchtigte Geheimdienst spähte ihn, den „bourgeoisen Liberalen“, mehrere Jahre lang aus, bis er schließlich Einreiseverbot erhielt. Im Zuge der deutschen Wiedervereinigung wurden die Stasi-Akten veröffentlicht und Garton Ash konnte die Protokolle seiner Bespitzelung einsehen. Es gelang ihm, sich mit fast allen auf ihn angesetzten Informanden zu treffen. In seinem Buch „Die Akte ‚Romeo‘“ (Buchbesprechung der New York Times) merkt er dazu lakonisch an: „Weit besser als die Madeleine“. (Das französische Gebäckstück ruft bekanntlich im Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ verschüttete Erinnerungen zurück.) Eine zentrale Frage bleibt für ihn offen: „Was ist es, das den einen zum Widerstandskämpfer werden lässt und den anderen zum treuen Knecht der Diktatur?“
Seit dieser Zeit ist Timothy Garton Ash ein hochangesehener Referent, Diskutant und Kommentator – und ein gerngesehener Gast in Berlin. Er ist beispielsweise eingeladen worden, 1999 die Ansprache anlässlich des zehnten Jahrestages des Mauerfalls im Schöneberger Rathaus zu halten. 2013 ist er mit dem Festvortrag zum Leibnitztag betraut worden. Er sprach zum Thema „Angewandte Aufklärung“ (in Anlehnung an Ralf Dahrendorf) vor der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, deren Mitglied er ist (Tonmitschnitt).
Im Dienste westeuropäischer Verständigung
Am 25. Mai wird Garton Ash in Aachen den Karlpreis 2017 entgegennehmen. Der Begründer des Karlspreises, Dr. Kurt Pfeiffer, beabsichtigte 1949, mit dem Preis „den wertvollsten Beitrag im Dienste westeuropäischer Verständigung“ zu würdigen. Eine solche Verständigung ist das Ziel einer offenen Debatte, wie sie das Projekt „Freespeechdebate“ propagiert. „Die Gestaltung der gemeinsamen europäischen Zukunft braucht heute mehr denn je den offenen Dialog, und sie braucht die Beteiligung vieler – der Bürgerinnen und Bürger, der Politik und der Wirtschaft, der Kultur und der Wissenschaft“, heißt es in der Begründung des Preiskomitees.
Der letzte britische Preisträger war 1999 Tony Blair. Der ikonenhafte Parteichef von „New Labour“ entfaltete damals eine ungeahnte Dynamik. Der Erdrutschsieg der Labour-Party inspirierte als leuchtendes Vorbild europaweit die politische Linke. Anderthalb Jahre nach Blairs Wahl zum Premierminister wurde Gerhard Schröder deutscher Bundeskanzler. Blair und Schröder prägten zusammen den „Dritten Weg“, eine pragmatische und moderne Wirtschafts- und Sozialpolitik sowohl jenseits des traditionellen Sozialismus als auch des Konservativismus und Marktliberalismus einer Magret Thatcher. (Der französische Premier Linonel Jospin verfolgte damals einen traditionelleren sozialistischen Ansatz. Manche Historiker bringen den damaligen Sonderweg Frankreichs in Verbindung mit der heutigen wirtschaftlichen Misere fast zwanzig Jahre später.)
Was bringt die Zukunft?
Wird sich die Geschichte mit vertauschten Rollen widerholen? Ist Emanuel Macron der neue Tony Blair? Macron hat nicht eine Oppositionspartei erneuert, sondern hat eine Regierungspartei verlassen, um außerhalb des etablierten Parteiensystems eine unbelastete neue Bewegung aufzubauen. Aber die optimistische Aufbruchsstimmung innerhalb der europafreundlichen Kreise der linken politischen Mitte mag vergleichbar sein. Wird im September mit Martin Schulz ein Pendant zu Emanuel Macron deutscher Bundeskanzler? Sehen wir einen europäischen „New Deal“ heraufdämmern?
Unser gemeinsames europäisches Haus möge in Herrlichkeit wiedererstehen. Karl der Große wiedererrichtete das römische Reich 324 Jahre, nachdem Romulus als letzter römischer Kaiser der Antike abgesetzt worden war. Die Europäische Integration wird hoffentlich wesentlich schneller wieder Fahrt aufnehmen.
Über den Autor
Lars Büthe, Jahrgang 1971, engagiert sich seit 25 Jahren aktiv für nachhaltige Entwicklung. Studium der Politikwissenschaft in Münster und Berlin. Beruflicher Stationen: Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Forum für Umwelt und gerechte Entwicklung (FUgE), GRÜNE JUGEND; aktuell: Mitgliederverwalter, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Landesverband Berlin.
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tbd* ist ein digitales Zuhause wo Menschen, wie du Best-Practices teilen und von anderen lernen können, die ebenfalls mit Weltverbessern Karriere machen.
Zum Launch haben wir daher Top DenkerInnen und MacherInnen unter den WeltverbessererInnen - also die Menschen, die uns jeden Tag aufs Neue inspirieren und motivieren - gebeten, einen Artikel für uns zu schreiben.
Wir stellen vor die Serie: Perspektiven. Wir haben diesen 10 sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten aus diversen Branchen und Sektoren freie Hand gegeben. Sie sollten darüber schreiben, was sie gerade - im Jahr 2017 in Deutschland - persönlich oder gesellschaftlich bewegt. Was zurück kam hat uns schwer beeindruckt und berührt. Danke dafür!